Das Ende der Überlastung

Miriam Gössner verzichtet wegen anhaltender Rückenschmerzen auf Olympia

  • Oliver Händler, Oberhof
  • Lesedauer: 4 Min.
Biathletin Miriam Gössner hört nun doch auf ihren Körper und schreibt die Olympischen Spiele in Sotschi ab. Eine schwere Entscheidung, die hätte einfach sein sollen.

Vor kurzem sagte Boris Kagarlitzki im nd-Interview, dass die Olympischen Spiele eine kommerzielle Veranstaltung sei, die zum Sport nur noch eine entfernte Beziehung habe. Es ginge nur noch um Politik und Kommerz, nicht mehr um den Versuch, sich selbst zu vervollkommnen. Hätte der russische Politologe am Samstagmorgen Miriam Gössner weinen sehen, er hätte seine Meinung wohl eingeschränkt: Zumindest für die Athleten geht es bei Olympia noch um Sport und Medaillen. Dafür nehmen sie sogar Schmerzen in Kauf – bis sie zu groß werden. Gössner hat entschieden, an den Winterspielen in Sotschi nicht teilzunehmen.

»Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass ich nicht nach Sotschi fahre und erst mal versuche, gesund zu werden«, sagte Gössner in einer spontan einberufenen Pressekonferenz. Wobei sagen das falsche Wort ist. Gössner schluchzte die Worte ins Mikrofon und nahm danach die Hände vors Gesicht, um sich vor dem Blitzlichtgewitter der Fotografen irgendwie zu verstecken. »Ich hatte über Weihnachten noch einmal alles probiert, eine gute Vorbereitung zu machen, sowohl medizinisch als auch im Training. Aber es hat nicht funktioniert. Und so macht es keinen Sinn«, so Gössner.

Die 23-Jährige galt nach dem Rücktritt von Magdalena Neuner als große Hoffnung unter den deutschen Biathletinnen, da sie die einzig Verbliebene war, die mit den schnellsten Läuferinnen mithalten konnte. Konnte – in dieser Saison lief auch sie hinterher, zuletzt beim Sprint am Freitag in Oberhof als 53. Zu wenig für eine wie Gössner, die in Sotschi nicht nur teilnehmen wollte: »Bei Olympia geht es um Medaillen, darum, ganz vorn mitzulaufen. Und dazu bin ich mit meinem Rücken derzeit nicht in der Lage.«

Der Rücken zwickte nicht nur. Miriam Gössner hatte ihn sich bei einem verheerenden Fahrradunfall im Training gleich an drei Wirbeln gebrochen. Eine anfängliche Lähmung verging zwar, doch schmerzfreier Spitzensport war auch knapp acht Monate später nicht möglich. Also zog Gössner die Reißleine: »Jetzt steht im Vordergrund, dass ich wieder gesund werde, um wieder mit neuem Spaß und weniger Schmerz mitmachen kann.« Eine Entscheidung, die viele schon viel früher getroffen hätten.

»Das ist sicherlich das Sinnvolle. Miriam hatte alles versucht«, sagte Teamarzt Bernd Wolfarth. »Das war eine sehr schwere Verletzung, und wir sind froh, dass sie überhaupt noch laufen kann. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.« Wolfarth hatte Gössners Heilungsverlauf stets überwacht. »Der Rehabilitationsprozess hatte einen guten Verlauf genommen und Hoffnungen geweckt«, sagte er. »Doch bei maximaler Belastung ist sie an ihre Grenzen gekommen.«

Gössner ist nicht die einzige Athletin, die regelmäßig Warnsignale ihres Körpers missachtet, obwohl gerade der ihr Werkzeug ist, den so geliebten Sport zu betreiben. Prominentestes Beispiel derzeit ist Alpin-Olympiasiegerin Lindsey Vonn. Die US-Amerikanerin fährt mit gerissenem Kreuzband über die Hänge und riskiert dabei noch mehr als Gössner. Versagen ihre Muskeln bei 120 Stundenkilometern den Dienst, das Knie zu stabilisieren, kann sie in den Fangzaun rasen oder noch schlimmer: bei einem weiten Sprung die Kontrolle verlieren. Irreparable Schäden könnten folgen.
»Bei Miriam bestand nie die Gefahr, durch Training und Belastung ihren Zustand wieder zu verschlimmern«, versicherte Teamarzt Wolfarth. Und doch scheint es auch psychologisch ungesund gewesen zu sein, den eigenen Körper so zu überlasten, über die Schmerzgrenze so weit hinauszugehen – nur für ein Stück edles Metall.

Doch so ticken Hochleistungssportler heute. So – und daran tragen Medien und Zuschauer ebenso ihre Schuld – werden aus Sportlern Helden. Philipp Lahm schoss 2006 mit einem Arm in der Schlinge das erste WM-Tor. Der Dank einer Nation war ihm sicher. Und wie hatten sich Fernsehkommentatoren und schreibende Journalisten überschlagen, als Diskuswerfer Robert Harting trotz Verletzung beim WM-Finale 2013 in Moskau doch noch einmal in den Ring ging und die Siegweite warf. Als ob Gold mit Schmerz mehr Wert besitzt als ohne.

Wenn Politiker, Funktionäre und einige Sportler Doping geißeln tun sie das meist aus zwei Gründen: Betrug und die Gefährdung der eigenen Gesundheit. Räumt man den Athleten jedoch das Recht ein, unter dogenunabhängigen Schmerzen zu starten, hebt man sie dabei sogar auf ein Schild, verliert zumindest dieses Antidoping-Argument jegliche Berechtigung. Warum sollte ein Sportler in der Rehabilitation nicht zu verbotenen Hilfsmitteln greifen, wenn er dadurch wieder schneller an die Spitze gelangt. Wunderheilungen geben immer tolle Geschichten her, und die lieben Zuschauer genauso wie Sponsoren.

Womit wir doch wieder beim Kommerzgedanken von Boris Kagarlitzki währen. Gössner, Lahm, Harting und Vonn mussten sich Gedanken um Geld jedoch nicht machen, als sie entschieden, nicht auf ihre Körper zu hören. Lieber zu leiden als aufzugeben, denn Letzteres tun Sieger ja nicht.

»Mittelfristig wird Miriam mit der Verletzung keine Probleme haben« sagte Bernd Wolfarth noch. Das hätte eigentlich die wichtigste Nachricht dieses Samstagmorgens sein sollen. Miriam Gössner war sie egal. Ihr großer Olympiatraum muss noch mal vier Jahre auf seine Erfüllung warten.

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