Hamburg wird zum Gefahrengebiet

Sonderrechte für die Polizei: Wer »links« aussieht, wird kontrolliert

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach den Auseinandersetzungen zwischen Linksautonomen und der Polizei erklärte der Hamburger SPD-Senat weite Teile der Innenstadt zum »Gefahrengebiet«.

In Hamburg gärt es. Die Stichworte lauten: Kampf um den Erhalt des linksalternativen Kulturzentrums Rote Flora im Schanzenviertel und der ESSO-Häuser im Stadtteil St. Pauli, akute Wohnungsnot, massive Gewalt bei und im Umfeld von Demonstrationen, Angriffe von Linksautonomen auf Polizeiwachen. In diesem aufgeheizten Klima hat sich die Polizei in Abstimmung mit dem SPD-Senat entschlossen, ein »Gefahrengebiet« auszurufen. Darin gelten ab sofort andere Regeln als sonst in einer Zivilgesellschaft üblich - es sind die der Polizei, die »open end« mit 140 Beamten in der Sonderzone Personalausweise zücken lässt, Taschen durchwühlt und Platzverweise ausspricht. Eine flapsige Bemerkung genügt, und der Ausflug auf den von Anwohnern so genannten »Galão-Strich« vis-à-vis der Roten Flora ist beendet.

So ergangen ist es laut einem Bericht der »Hamburger Morgenpost« dem selbstständigen Händler Rainer Raeder aus dem feinen Stadtteil Harvestehude. Der mit einem Baseball-Cap bekleidete 55-Jährige wurde am Sonntag im Schanzenviertel binnen einer halben Stunde dreimal kontrolliert und empfand das als »unverschämt« und »entwürdigend«. Genervt empfahl der Unternehmer den als »unhöflich und aggressiv« beschriebenen Polizisten, sie mögen doch bitte lieber in der Innenstadt kontrollieren, wo zurzeit Taschendiebe ihr Unwesen trieben. Der ungebetene Tipp wurde mit einem Aufenthaltsverbot geahndet.

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Die Proteste der »Occupy«-Bewegung hatten im Herbst 2011 von New York aus Millionen Demonstranten rund um die Welt mobilisiert - und waren danach abgeebbt. Sie waren eine Antwort auf die 2008 ausgelöste, weltweite Finanzkrise und ein Protest gegen die Macht von Banken sowie gegen soziale Ungerechtigkeit.

Seit November 2011 harrten die Demonstranten in der Hamburger Innenstadt aus. Wie ein Mitglied der Nachrichtenagentur dpa berichtete, war das Hamburger Camp das letzte von weltweit Hunderten Anlagen. Anderswo gebe es nur noch sporadisch ein Zelt als Mahnwache. Am Finanzplatz Frankfurt war das »Occupy«-Camp schon im Sommer 2012 geräumt worden. (dpa/nd)

Insgesamt wurden bis Sonntagmittag 414 Menschen überprüft. Dabei wurden 81 Aufenthaltsverbote und acht Platzverweise ausgesprochen, 45 Personen wurden in Gewahrsam genommen. Die Sachausbeute der Beamten: Schlagwerkzeuge, Pyrotechnik und schwarze Masken. Gegen drei Personen wurde Anzeige wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz erstattet. Die Betroffenen hätten sogenannte »Polenböller« mit sich geführt, erklärte Polizeisprecherin Sandra Levgrün. Anderthalb Hundertschaften seien dauerhaft im Einsatz, um »verdächtige und polizeibekannte Personen« zu überprüfen. »Oma Duck mit 84 Jahren ist sicher nicht betroffenen, auch Spaziergänger stehen nicht im Fokus.« Die Kontrollen durch »szeneerfahrene Kollegen« erfolgten mit Augenmaß, so Levgrün.

Bei dem gefilzten Herrn aus Harvestehude war das offensichtlich nicht der Fall. War es das Cap? Ins Visier der Ordnungshüter geraten auch Personen, die »wie Linke aussehen«, so ein Beamter gegenüber einer Gruppe Jugendlicher. Kapuzenjacke und schwarze Kleidung genügen, um sich die Einschätzung, ein Linker zu sein, zu verdienen. Für drei aus der Fünfergruppe endete die Überquerung der Kreuzung Schulterblatt/Schanzenstraße mit einem Aufenthaltsverbot.

Bereits am Sonnabendnachmittag dürften die wenigen Reeperbahn-Bummler über das halbe Dutzend Mannschaftswagen der Polizei gestaunt haben, das entlang der zu diesem Zeitpunkt ansonsten verwaisten Amüsiermeile schon tagsüber Präsenz zeigte. Dort und an anderen Orten zwischen den Landungsbrücken und dem an den Stadtteil Eimsbüttel grenzenden Pinneberger Weg schwärmten die Beamten später in Fünfergruppen aus, um nach verdächtigen Personen Ausschau zu halten.

Das Gefahrengebiet sei in Absprache mit dem Hamburger Innensenator Michael Neumann (SPD) eingerichtet worden, erklärte die Polizeisprecherin: »Die Maßnahme ist im Gefahrenrecht geregelt und kann ohne Staatsanwalt und Richter umgesetzt werden.« Zuletzt sei das 2013 im Schanzenpark einige Wochen lang der Fall gewesen, um dort die offene Drogenszene in den Griff zu bekommen. Auch bei den Schanzenfesten seien bereits Areale zum Gefahrengebiet erklärt worden, erklärte Levgrün: »Dass wir aber ein so großes Gebiet dazu ernannt haben, ist zum ersten Mal passiert.« Wie lange die Maßnahme andauern wird, sei offen: »Theoretisch open end.«

Während die in der Hansestadt alleinregierende SPD ebenso wie die CDU hinter dem Vorstoß steht, hagelt es Kritik von den drei kleinen in der Bürgerschaft vertretenen Oppositionsparteien. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Carl-Edgar Jarchow, stellte den »Umfang« und die »Verhältnismäßigkeit« der Aktion infrage. Schärfere Töne schlug die LINKE an. Deren Landessprecher Bela Rogalla erkannte »Kennzeichen eines Polizeistaates« und warf dem SPD-Senat vor, mit »dieser Polizeistrategie die politische Situation weiter zu eskalieren«.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft »Kritischer Polizistinnen und Polizisten« hält die Ausrufung großer Teile der Stadt zur Gefahrenzone grundsätzlich für »Schritte weg von zivilisatorischen Errungenschaften hin zu polizeistaatlichen Elementen«. Politische Führung finde in Hamburg nicht statt. Innensenator Michael Neumann (SPD) stehe in der Traditionslinie der »Politik der Stärke« seiner (christdemokratischen) Vorgänger. Der Innenexperte der SPD-Fraktion, Arno Münster, kontert die Kritik: »Bereits bei den ersten Kontrollen wurden zahlreiche gefährliche Gegenstände sichergestellt - schon das bestätigt die Richtigkeit dieser Maßnahme.«

Die Diskussion um die Befugnisse der Polizei zieht immer größere Kreise. Bestärkt durch Solidaritätsbekundungen von in St. Pauli ansässigen Geschäftsleuten für die bei den Krawallen verletzten Beamten und auf dem Internetportal Facebook (50 000 Unterstützer) prescht die Gewerkschaft der Polizei vor. Deren Chef Joachim Lenders fordert nicht nur mehr Geld und schnellere Beförderungen, sondern auch die Bereitstellung von Elektroschockwaffen. »In letzter Konsequenz - darüber muss man sich im Klaren sein - müssen Polizisten auch Schusswaffen einsetzen«, sagte Lenders gegenüber dem »Hamburger Abendblatt«. Das klingt ein bisschen nach Bürgerkrieg im Gefahrengebiet Hamburg.

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