»Chancen-Aufenthaltsrecht«: Eine Chance nach 30 Jahren Angst

Wie eine Tochter den ersten Aufenthaltstitel für ihre traumatisierte Mutter erkämpfte

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 5 Min.
Endlich etwas Sicherheit nach Jahrzehnten ohne Aufenthaltstitel: Alia Banjak
Endlich etwas Sicherheit nach Jahrzehnten ohne Aufenthaltstitel: Alia Banjak

Laial Bzeih ist Deutsche. Sie wurde im Libanon geboren, ist in Deutschland aufgewachsen, besitzt seit 2017 einen deutschen Pass. Wenn sie die Geschichte ihrer mittlerweile 62-jährigen Mutter Alia Banjak erzählt, wirkt sie gefasst. Es ist die Geschichte einer Frau, die über 30 Jahre lang ohne sicheren Aufenthaltstitel in Deutschland lebte – geduldet, überwacht, immer in Angst, abgeschoben zu werden. Eine Geschichte, die eine Familie über Jahrzehnte geprägt und verletzt hat.

Alia Banjak floh Ende der 80er Jahre aus dem Südlibanon nach Deutschland. Sie bekam Kinder, kehrte zwischenzeitlich in den Libanon zurück, floh später erneut. Schließlich kam sie wieder nach Deutschland, landete im nordrhein-westfälischen Schwalmtal im Landkreis Viersen. Doch ihre Rückkehr in die Bundesrepublik galt als illegal, weil sie das Land zuvor eigenständig verlassen hatte. »30 Jahre lang hieß es: Sie werden nie einen Aufenthaltstitel bekommen«, sagt Laial.

Tatsächlich erhielt die Mutter immer nur eine Duldung, für deren Verlängerung sie alle paar Monate in die Ausländerbehörde musste. Die Familie lebte lange in prekären Verhältnissen – in heruntergekommenen, verschimmelten Sozialwohnungen. Die Mutter war schwer krank: Rheuma, Fibromyalgie. Vor einigen Jahren wurde zudem eine bipolare Störung bei ihr diagnostiziert. Ein Pflegegrad und ein Behinderungsgrad von 60 Prozent wurden anerkannt. Doch die Angst vor der Abschiebung blieb allgegenwärtig.

Am 21. Juni 2022 dann der Schock: Alia Banjak wurde von der Polizei am frühen Morgen aus ihrer Wohnung geholt – ohne Vorwarnung. Sie wurde zu Boden gebracht, gefesselt, in eine Zelle im Polizeikommissariat Viersen gesteckt und dann ins Abschiebegefängnis ins rheinland-pfälzische Ingelheim gebracht, weil die bislang einzige Abschiebehaftanstalt in NRW in Büren nur für Männer vorgesehen ist. Was sie dort erlebte, hat sie tief traumatisiert.

»Ich war am Ende. Fünf Jahre lang nur Verfahren, Gutachten, Ablehnungen, Pressearbeit. Aber ich musste das machen. Für meine Mutter.«

Laial Bzeih Tochter von Alia Banjak

»Noch heute hat meine Mutter die Schreie von Frauen, die 18 oder 19 Jahre alt waren, in den Ohren«, erzählt Laial. Viele von ihnen seien aus Somalia gewesen. »Die haben keine Chance bekommen, sich zu wehren, die konnten kein Deutsch. Und die Sozialarbeiter, die da arbeiten, die interessierte das alles nicht.« Sie habe mit den Ärzten telefoniert und ihnen gesagt, dass ihre Mutter dringend Medikamente brauche und untersucht werden müsse, weil sie schwer krank sei. »Ja, ja, wir kümmern uns, wir melden uns bei Ihnen, hat man mir gesagt, aber es kamen keine Rückrufe.«

Medikamente wegen ihres Rheumas habe ihre Mutter nicht erhalten. Nur Mittel, die sie reisefähig machen sollten. Schließlich sei sie in den Hungerstreik getreten. Laial begann, öffentlich Druck zu machen: Mit Unterstützern vom Diakonischen Werk schrieb sie einen offenen Brief, kontaktierte Medien, Politiker.

Nach 18 Tagen wurde die Mutter entlassen, die Abschiebung drei Tage vor einem bereits für sie gebuchten Flug in den Libanon vorerst abgesagt – allerdings nur wegen fehlender Papiere. Grundsätzlich bestand die Ausländerbehörde weiter darauf, dass Banjak ausreisen müsse, obwohl ein psychiatrischer Gutachter ihr eine schwere Traumatisierung bescheinigt hatte.

Laial kämpfte weiter: Härtefallkommission, Petitionsausschuss, Gespräche mit Bürgermeister und Medien – immer wieder versuchte sie, Unterstützung zu gewinnen. »Ich war am Ende. Fünf Jahre lang nur Verfahren, Gutachten, Ablehnungen, Pressearbeit – aber ich musste das machen. Für meine Mutter.«

Erschwerend kam noch hinzu, dass an der Ingewahrsamnahme Banjaks beteiligte Polizisten Anzeige gegen sie wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gestellt hatten, weil sie sich gegen ihre Verhaftung gewehrt haben soll. Erst im Frühjahr dieses Jahres wurde sie nach einer mündlichen Verhandlung am Amtsgericht Mönchengladbach-Rheydt von diesem Vorwurf freigesprochen. Wäre sie verurteilt worden, wäre ein Aufenthaltstitel für sie weiter ausgeschlossen gewesen.

Unterstützung bekam die Familie von zivilgesellschaftlichen Gruppen wie dem Projekt Abschiebungsreporting NRW. Ende November 2022 war ihr ein Umzug zu Angehörigen nach Mönchengladbach ermöglicht worden. Der Chef der dortigen Ausländerbehörde lenkte schließlich ein: Banjak erhielt im Sommer dieses Jahres einen sogenannten Chancen-Aufenthaltstitel. Dieser gilt zunächst für 18 Monate. Die Stadt Mönchengladbach hat ihr in Aussicht gestellt, im Anschluss eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, die ihre gesundheitliche Lage berücksichtigt. »Es war der erste Moment der Sicherheit nach Jahrzehnten. Ich konnte zum ersten Mal durchatmen«, sagt Tochter Laial.

Die Geschichte von Laials Mutter ist kein Einzelfall. Aber sie macht sichtbar, was oft im Verborgenen geschieht: jahrelange Unsicherheit, systematisches Wegsehen, psychische wie körperliche Belastungen. Alia Banjak hat weiter Angst, öffnet niemandem die Tür, lässt die Jalousien stets geschlossen. Während Laial und zwei ihrer Geschwister einen deutschen Pass haben, ist ein Bruder – 32 Jahre alt, in Deutschland geboren – bis heute nur geduldet. »Meine Mutter ist schwer krank. Ihr Immunsystem ist schwach. Deswegen wollte sie auch nicht selbst mit einem Journalisten sprechen«, sagt Laial. Als sie ihrer Mutter erzählte, dass in Mönchengladbach ein neues Abschiebegefängnis geplant sei, habe diese gesagt: »Laial, du bist stark. Tu alles dafür, dass das nicht passiert.«

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