Zeitreise in 90 Minuten
Solo-Abend des Pianisten Martin Helmchen
Wo für gewöhnlich ein ganzes Orchester Platz zu nehmen pflegt, auf der Bühne des Großen Konzerthaus-Saals, stand am Donnerstagabend nichts als ein glänzender Flügel. Aus seinem Schlaf befreit wurde er durch die flinken Finger des 31-jährigen Pianisten Martin Helmchen. Der schmächtige Lockenkopf, ein Berliner, dessen virtuose Höhenflüge ihm längst zu internationaler Anerkennung aufgeholfen haben, war in der Konzertsaison 2008/09 »Artist in Residence« am Gendarmenmarkt; sein Solo-Abend: gleichsam ein Heimspiel, bevor es für ihn weiter geht nach Cleveland, San Francisco, Dallas, Moskau und sonst wohin.
Das Instrument - majestätisch, aber neutral - harrte also der Klänge, die sein begnadeter Knecht ihm entlocken würde. Der hatte sich kurzfristig entschieden, die angekündigte Abfolge chronologisch zu ordnen und derart eine Tastenmusikgeschichte im Zeitraffer zu präsentieren: vom Barock bis zur Zwölftonmusik. Los ging’s mit der 1728 erstgedruckten Parita D-Dur des Thomaskantors Bach, einem Paradestück kristallin polyphoner Allmacht, dem Helmchen aber auch präromantische Innigkeit abzulauschen verstand.
Weiter führte die Zeitreise in die Bürgerstuben des mittleren 19. Jahrhunderts. Dort wohnte man der meisterlichen Darbietung von Robert Schumanns »Waldszenen«-Zyklus bei. Der Romantiker hat seine Charakterstücke im Dresden der Jahre 1848/49 komponiert. Während Wagner sich draußen vor der Tür als Revolutionär versuchte, zog es Schumann in die Waldeinsamkeit. Das mag sich traurig lesen, klingt aber traumhaft schön.
Nach der Pause dann die Variationen op. 27 des Schönberg-Schülers Anton Webern - ein Ausbund musikalischer Struktur, auf das der Geist sich einlassen muss, will das Ohr denn mehr wahrnehmen als punktuelle Gereiztheit. Es lohnt sich absolut. Nach Abschluss der Geschichtsstunde spielte Helmchen wie mit durchgetretenem Gaspedal Schuberts »Wanderer-Fantasie« C-Dur op. 15 und löste damit - Schubert-Spezialist, der er ist - beim Publikum die größte Begeisterung aus. Man liebt eben die Wolke - und schätzt den Regen nicht.
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