Das Land aller Völker gibt es nicht mehr

Martin Kordic erzählt von Ressentiments, von Hass und Gewalt in kurzen manchmal lakonischen Anspielungen

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

Hinter dem Text dieses Romanerstlings von Martin Kordic (Jahrgang 1983) findet sich noch die Abbildung eines Fotos. Es zeigt ein altes steinernes Landhaus, von einer ebenfalls steinernen Mauer eingefasst, davor unter einem schattenspendenden Baum drei Stühle. Menschen sieht man keine. Möglicherweise ist das Haus verlassen worden, und es handelt sich um die letzten Relikte aus dem früheren Hausstand. Dennoch wirkt die Fotografie irgendwie idyllisch und lässt Vorstellungen einer südlichen Landschaft aufkommen.

Ja, so könnte man sich auch den Raum und die Dörfer vorstellen, von denen Kordic, 1983 in Celle geboren, erzählt. Die Großmutter des Protagonisten berichtet davon einmal in einem Brief an ihren Enkel: »Du weißt nicht, wie das Leben hier einst war. Wie es sein kann. Ein fruchtbares Land voller Berge, Schluchten, Seen und Feigenbäume. Wie im Paradies.« Nur, das Paradies, die Idylle - sie sind in jenem grauenhaften Krieg auf dem Balkan Anfang der 90er Jahre verschwunden.

Davon erzählt Kordic, ohne ein einziges Mal explizit Namen und Daten, Fakten und Ereignisse zu erwähnen. Statt dessen haftet dem Text etwas eigenartig Fremdes, Verfremdetes an, das nicht zuletzt typisch ist für die Gattung des Märchens. So heißt der einbeinige Freund des Protagonisten »Dschib«. Viktor selbst, Kind und Erzähler eines Textes, der strikt im Präsens gehalten ist und der die Figur des Erzählers ständig zwischen der Ich-Perspektive und der distanzschaffenden Perspektive des Jungen oszillieren lässt, ist stark behindert, trägt eine Rückenspinne, die den verwachsenen Körper in Fasson bringen soll, und ist ständig mit seinem Hund Tango unterwegs. Was zunächst noch wie eine eher gewöhnliche Kindheit aussieht, nimmt immer eindringlicher die Gestalt einer ebenso bedrohlichen wie allumfassenden Gefährdung an: eines Krieges, der scheinbar aus dem Nichts hervorgebrochen ist.

Jetzt sprechen die Nachbarn nicht mehr miteinander, prügeln sich die Kinder auf der Straße, werden ganze Familien von der einen Seite des Flusses auf die andere evakuiert, hört man von Gefechten, verschwinden über Nacht die Väter aus den Familien, um irgendwo als Krieger - von wem auch immer - eingesetzt zu werden. Die eine Ethnie und Religion hasst die andere, von heute auf morgen und abgrundtief. Bei Kordic heißen sie die »Kreuzer« und die »Mudschis«, Christen und Muslime: »Der Vater verbietet der Mutter, sich mit der anderen Mutter zu treffen. Er haut ihr sogar ins Gesicht. Die Mutter hält sich trotzdem nicht dran. Der Bruder und ich können nicht immer aufpassen, weil wir in der Schule sind, und der Vater ist viel zu selten da, weil er der gute Krieger ist. Nach der Schule stelle ich mich auf den Balkon. Wenn die andere Mutter auch auf ihrem Balkon steht, mache ich mit der Hand einen Revolver, kneife das rechte Auge zu und ziele auf sie.«

Kordics Roman erzählt also von Krieg und Gewalt, von Hass und Ressentiments, zumeist nur in kurzen, manchmal lakonischen Anspielungen, die aber erkennen lassen, wie tief ins Innerste hinein die Saat gestreut ist.

Das ist die eine Seite, der sozusagen tragende Hintergrund des Romans, der dann - im sprechenden Titel des Buches angedeutet - aus kindlicher Perspektive den anderen verborgenen und (kriegs-)entstellten Raum anzuvisieren sucht: nämlich die Utopie des Friedens, die für den Erzähler Viktor das Aussehen einer neuen Gemeinschaft (unter Einschluss aller Tiere und der ganzen Natur) trägt. Vielleicht wieder so oder aber auch wieder ganz anders, als es die Fernsehstimme abends verkündet: »Das Land aller Völker gibt es nicht mehr.«

Martin Kordic: Wie ich mir das Glück vorstelle. Roman. C. Hanser Verlag. 176 S., br., 16,90 €.

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