Kühlen Kopf bewahren

Peter Wahl über eine Deeskalation auf der Krim und Perspektiven eines rot-rot-grünen Reformprojektes

  • Peter Wahl
  • Lesedauer: 4 Min.

»Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn.« Es war ausgerechnet Sigmund Freud selbst, der Entdecker der verborgenen Triebkräfte menschlicher Leidenschaften, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf so emphatische Weise Partei ergriff. Auch wenn die Krise um die Ukraine im Vergleich zum Weltkrieg ein Sturm im Wasserglas ist, die Emotionen kochen in solchen Situation immer hoch - in allen Lagern. Teil der Eskalationsspirale ist die (ver-)öffentliche Meinung. Aber andererseits gehören dazu auch das Bluffen, die psychologische Kriegführung, der Theaterdonner. So steht die reale Substanz der Sanktionen - so kritikwürdig sie als Ausdruck imperialer Arroganz auch sind - doch in frappantem Gegensatz zur dramatischen Rhetorik.

Daher kommt es in solchen Situationen darauf an, kühlen Kopf und den strategischen Weitblick zu wahren. Und das gilt natürlich auch für Themen, die unter »Ansteckung« durch die Ukraine-Kontroverse leiden, wie die koalitionspolitischen Perspektiven der Linkspartei. Zumal es Anzeichen dafür gibt, dass der Höhepunkt der Krise überschritten ist.

Die Integration der Krim in den russischen Staatsverband ist irreversible Tatsache, und die Klügeren unter den westlichen Politikern wissen das auch. So spricht es Bände, wenn die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ihre Äußerung von der Truppenkonzentration an den NATO-Grenzen schon nach einem Tag zurücknehmen muss. Interessant auch, dass der Chef der Kiewer Übergangsregierung, Arseni Jazenjuk, ankündigt, dass die Ukraine weder Atomwaffen beansprucht noch in die NATO aufgenommen wird. Das hören die Scharfmacher in seiner Regierung und auf dem Maidan gewiss nicht gern, aber natürlich sagt er so etwas nicht ohne Absprache oder Weisung aus Washington und Berlin. Die Deeskalation ist im Gange.

Und so wie die russische Reaktion auf der Krim nur der letzte Akt eines komplexen Gesamtprozesses ist, der mit der Roll-Back-Politik der NATO nach dem Ende der UdSSR begann und sich mit der Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten der Ukraine seit November zuspitzte, so muss man jetzt umgekehrt dem Westen etwas Zeit geben, von dem Baum, auf den er geklettert ist, wieder runter zu kommen. Das gilt auch für Grüne und SPD. Vor allem in der SPD gibt es eine Reihe von außenpolitisch klugen Köpfen, die derzeit in der Defensive sind, aber durchaus wissen, dass die Merkel-Steinmeier Linie nicht nachhaltig ist.

Darin liegt für die Linkspartei eine Chance, wenn sie erkennt, dass es außenpolitisch um mehr als die Krim geht. Die Krise ist auch Ausdruck dafür, dass sich die Verhältnisse im internationalen System tiefgreifend verändern. Die USA und ihre Juniorpartner müssen sich daran gewöhnen, dass die Welt sich zu einer polyzentrischen Ordnung hin entwickelt und das globale Machtmonopol der USA und in ihrem Schlepptau der EU zu Ende geht. Als Reaktion auf das unilaterale Schalten und Walten des Westens beginnt sich seit einiger Zeit eine Achse Peking-Moskau herauszubilden. Auch sieht China, was hier verschämt heruntergespielt wird, die Ursachen der ukrainischen Krise in der Einmischung des Westens.

Soll all dies nicht in neuer Blockbildung und kaltem Krieg münden, sind innovative Konzepte gefragt. Eine Partei, die hier in die Offensive geht und die überkommenen Dogmen traditioneller Geopolitik aufbricht, wird bei Wählern Punkte machen können - so wie Willy Brandt mit der Ostpolitik. Gefragt sind Konzepte, wie die neue Weltordnung so gestaltet werden kann, dass die großen Fragen von Klimawandel, globaler Ungleichheit und Armut, Ressourcenknappheit und Frieden kooperativ gelöst werden können.

Das findet Rückhalt. Wie die Umfragen zeigen, folgen die Deutschen nicht dem scharfmacherischen Kurs von Regierung und staatstragender Opposition. Nur 20 Prozent befürworten die Haudrauf-Politik der Sanktionen. Daran kommen auch SPD und Grüne auf Dauer nicht vorbei. Letztlich entscheidet sich die Regierungskoalition nach 2017 an den Wahlurnen und dem Kräfteverhältnis, das sich dabei bildet.

Insofern besteht nicht nur von der Sache her, sondern auch aus koalitionspolitischen Erwägungen nicht der geringste Anlass, sich in die außenpolitische Sackgasse von SPD und Grünen zu begeben.

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