Mephistos Welt

»Faust. Der Tragödie erster Teil« in Plauen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Walter Ulbricht, bekennender Klassik-Liebhaber, verstieg sich einst dazu, in der DDR eine Fort- und Realsetzung des »Faust«, gleichsam dessen dritten Teil unter sozialistischen Bedingungen, zu erkennen. Diese Position bekamen auch die Künstler, mit denen er sich zu regelmäßigen »Beratungen« traf, zu hören. Es war Anna Seghers, die auf ihre feenhafte Weise ebenso leise wie durchschlagend konterte: Faust, das möge ja noch angehen, aber was werde aus Mephisto?

Das ist die Frage, die bleibt: Was wird aus dem Teufel, der jenes Prinzip der Negation verkörpert, vor dem nichts Bestand hat? Michail Bulgakow hat das Thema bereits in der »Der Meister und Margarita« variiert. Voland ist darin eine neuzeitliche Variation auf Mephisto, der sich als »Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, versteht. Die Dialektik der Entwicklung hört nie auf? So scheint es. Und wenn die Negation zwar das Böse will, aber so doch das Gute schafft - gilt dann auch die Umkehrung vom Positiven, das stets das Gute will und stets das Böse schafft?

Faust jedenfalls sieht, trotz zauberhafter Verjüngung in Mephistos Welt, ziemlich alt aus. Eine Welt der Täuschungen, die nur eine der vielen gegebenen Versprechungen einhält: dass hier alle Gewissheiten pure Täuschung sind und nur eines Bestand hat - der Zweifel. Von hier aus wäre einmal die quasi-kommunistische Vision vom freien Volk auf freiem Grund am Ende des zweiten Teils des »Faust« zu bedenken. Aber der alte und blinde Faust hört anscheinend auch schlecht. Von den Lemuren, die ihm schaufelklappernd das Grab ausheben, meint er, hier werde an einem großen Graben gearbeitet. Die Erfüllung seiner Sinnsucher-Odyssee? Nein, wieder nur Teufelstrug! Die Geschichte des Sozialismus rückt Ulbrichts Lieblingsstelle, den von Mephisto manipulierten Todestraum Fausts, in ein tragikomisches Licht, ohne dass diese eine pathetische Lüge wäre.

Springen wir in die Gegenwart Faustens, nach Plauen. Dies ist eine Stadt, die ein Theater hat, dessen Zuschauerraum (ebenso wie der Geras) dem des Deutschen Theaters in Berlin täuschend ähnlich sieht. Was besitzt doch die sogenannte Provinz für einen Reichtum an Theaterbauten! Hier hat Matthias Thieme den ersten Teil des »Faust« inszeniert. Dieser junge Regisseur sorgte in Zwickau/Plauen bereits im vergangenen Jahr mit seinem »Don Carlos«, halb in einem Bühnenbild aus Schlachthofkacheln spielend, halb auf einer Verladerampe, für Furore.

Nun verblüfft er mit einem überaus konsequenten Zugang zum »Faust«-Stoff. Wir sind in Mephistos Welt gefangen, ja mehr noch, Faust scheint eine Erfindung von Mephisto zu sein, der nach seinem Willen erst auseinandergenommen und dann wieder zusammengesetzt wird. Ist die Magie im »Faust« denn nichts anderes als die von Mephisto perfektionierte Technik der Gehirnwäsche? Es scheint so.

Mephisto, gespielt von dem hinreißend exaltierten Benjamin Petschke, stürmt gleich zu Beginn auf die Bühne, als wäre er hier in Dieter Bohlens »Deutschland sucht den Superstar«. James Browns legendärer Song »Man’s World« knallt ebenso laut wie grell-bunt ins Klischee der Klassikerweihe. Mephisto: ein Soloperformer, ein Aufmerksamkeitsjunkie im weißen Jäckchen mit Plüschbesatz, darunter nackte Haut. Diesem Zuhälter aller Lebensbeschleunigung gegenüber erweist sich der biedere Faust (Marius Marx) schlagartig als wehrlos. Er zerfällt förmlich unter Mephistos Dirigat. Mephisto, ein Schöpfer aus zweiter - technisch-synthetischer - Hand, manipuliert Faust, nein, er designt ihn völlig neu. Der größte Betrug dabei: Er macht ihm vor, alles sei in Ordnung.

Faust also ist in der Regie von Matthias Thieme von Anfang an in der Hölle gefangen! Sein ungestillter Erkenntniswille, der doch nur die ihm bislang verborgene Triebhaftigkeit maskiert, liefert ihn Mephisto schließlich völlig aus. Aber es gibt ja auch noch Gretchen, die personifizierte Unschuld. Ist sie vielleicht eine Chance für Faust, seine Selbstentfremdung zu überwinden? Elisa Ueberschär gibt ihr erst einen sehr herb-wehrhaften Ausdruck, aber dann zeigt sie sich doch tödlich verletzt. Warum leidet sie und nicht Faust? Weil sie bedingungs- und vorbehaltlos liebt, während er nur eine Erfahrung mehr - die nachholend geschlechtliche - an ihr zu machen gedenkt. Faust verstärkt, in Mephistos Zauberkunst gefangen, nur immer eins: seinen blinden Ehrgeiz, sein instrumentelles Verhältnis zu anderen Menschen. Darum kann ihm nur ein Teufel zum Meister werden.

Die Gretchen-Melodie kommt von Tocotronic: »Ich möchte irgend etwas für dich sein!« Eine ebenso verzweifelte wie vergebliche Anrufung Fausts, des großen Egoisten, der sich an den Freibrief der Erkenntnis noch in jenen rausch- und triebhaften Regionen klammert, da es um bloßen Konsum fremden Lebens geht! Musik gibt in dieser Inszenierung immer den Grundton der einzelnen Szenen vor. In der Hexenküche etwa ist es Paul Kalkbrenner mit seinen sphärenhaften Elektrobeats. Und all das in der funktional-gestellhaften Bühne von Christof von Büren, die, in Licht und Nebelschwaden getaucht, immer wieder anders unheimlich wirkt.

Thiemes ebenso tiefernster wie spielverlorener Furor nimmt diesem Plauener »Faust« jeden Anflug der Provinzialität. Das hier ist weder verstaubt noch modisch verkürzt. Faust, der Intellektuelle, blickt in den Spiegel. Was tragisch an ihm schien, ist bloß lächerlich. Aber den Mut, das Tragische im Lächerlichen anzuerkennen, hat er nicht, davor steht - auch nach seiner künstlichen Verjüngung - der professorale Dünkel dieses sehr deutschen Intellektuellen, der täglich neu zu beweisen müssen glaubt, dass er erstens kein Idiot und zweitens nicht gänzlich nutzlos ist.

Aber gerade dieser ständige Beweiszwang trennt ihn von seiner eigenen Natur - und zu dieser Natur gelangt Faust nie. Goethe aber spielte anhand von Faust, diesem gefallenen Akademiker, das Exerzitium der Selbsterniedrigung durch Alter und Tod sehr uneitel durch. Er ist ein Repräsentant nach seinem Sturz - hier könnte Erkenntnis beginnen, aber in einem ist Faust bis zum Schluss, seinem Todesmonolog im zweiten Teil, »Ein Sumpf zieht am Gebirge hin«, unschlagbar: darin, die Realität nicht wahrzunehmen, sich in Trugbilder der eigenen Bedeutsamkeit zu flüchten.

Mephisto hat es da leichter. Er bleibt ein bloßes Prinzip, das nicht altert, während Faust ein Gelehrter aus Fleisch und Blut ist, der irgendwann nicht mehr weiß, wozu er all sein Wissen überhaupt angehäuft hat. Faust fragt sich, warum er eigentlich auch noch mit den Attributen der Männlichkeit ausgestattet wurde und für ein beliebiges unwissendes Mädchen wie Gretchen sofort bereit ist, alles, was ihm bislang seine (die faustische) Welt war, wegzuwerfen und wie ein brünstiges Tier nur noch ein Ziel zu verfolgen: Sex! Derart tierische Anwandlungen sind für einen, der seinen Geist - und nicht seinen Körper - lebenslang so erfolgreich trainierte wie der Professor Faust, eine nicht hinnehmbare Demütigung, die er ohne die ihm von Mephisto zugeführten Drogen gar nie ertragen könnte.

Der von Thiemes Regie gewollte Zusammenklang des Tuns aller Beteiligten gibt dem Abend selbst etwas von einem Rausch, allerdings einem nüchtern-klarblickenden. Wenn am Ende die Bühne vom Regisseur und die Regie vom Bühnenbildner sei, dann habe man es richtig gemacht, so Thieme. Von den Schauspielern gar nicht zu reden, diesem Kollektivleib des Stückes, das es nach Kräften zu feiern gilt.

Nächste Vorstellung in Zwickau: 30.3., in Plauen am 11.4.

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