Pfeifen in der Festung Europa

In Berlin und Leipzig darf der Homosexuelle Halil Ibrahim Dinçdag wieder Schiedsrichter sein

  • Jan Tölva
  • Lesedauer: 3 Min.
Nach seinem Coming Out durfte Halil İbrahim Dinçdağ im türkischen Fußball kein Schiedsrichter mehr sein. In dieser Woche leitet er zwei Spiele in Berlin und Leipzig und erzählt seine Geschichte.

Am Dienstag findet auf dem Sportplatz Blücherstraße im Süden des Berliner Stadtteils Kreuzberg ein besonderes Fußballspiel statt. Im Mittelpunkt werden ausnahmsweise mal nicht die Spieler stehen, sondern der Schiedsrichter. Denn das Freundschaftsspiel zwischen der zweiten Mannschaft von Tennis Borussia und Türkiyemspors drittem Team wird von Halil İbrahim Dinçdağ gepfiffen.

Fünf Jahre ist es bereits her, dass das Schicksal des türkischen Schiedsrichters bis weit über die Grenzen seines Heimatlands hinaus für Schlagzeilen gesorgt hatte. Damals war er vom zuständigen Schiedsrichterverband suspendiert worden. Formell geschah das, weil er seinen Militärdienst nicht abgeleistet hatte, wie es in der Türkei für Schiedsrichter Pflicht ist, um die Lizenz zum Pfeifen auch zu behalten. Zur ganzen Wahrheit gehört jedoch auch, dass Dinçdağ seinen Wehrdienst zwar im Herbst 2008 angetreten hatte, wenig später jedoch von der Militärmedizinischen Akademie ausgemustert worden war - wegen »psychosexueller Störungen«, wie es hieß. Oder anders gesagt, weil er homosexuell ist und kurz zuvor sein Coming Out gehabt hatte.

Nach dem Bekanntwerden seiner Homosexualität war für Dinçdağ nicht nur mit der Schiedsrichterei Schluss. Er musste auch aus der Schwarzmeermetropole Trabzon, wo er damals lebte und arbeitete, fortziehen nach Istanbul, wo er hoffte in einer anonymeren, aber auch weltoffeneren Umgebung wieder Fuß fassen zu können. Es gelang ihm nicht wirklich. Bis heute ist Dinçdağ arbeitslos, und das ist auch der Grund, warum so viel Zeit vergehen musste, bis er endlich nach Deutschland kommen konnte.

Bereits seit eineinhalb Jahren schwebte die Idee im Raum, Dinçdağ für ein paar Veranstaltungen nach Deutschland zu holen. »Im Dezember hatten wir dann alles zusammen und alles war vorbereitet«, erzählt Christian Rudolph von der Abteilung Aktive Fans bei Tennis Borussia, »aber dann wurde Dinçdağ die Einreise verweigert.« Weil er arbeitslos war, fürchtete die Bundesrepublik, könne er womöglich hier bleiben wollen. In der »Festung Europa«.

Geholfen habe dann Cornelia Reinauer, die bis 2006 für die damalige PDS Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg war und später im Aufsichtsrat von Türkiyemspor saß, erzählt Rudolph. Am Ende passierte alles so plötzlich, dass die Beteiligten selbst ein wenig überrumpelt waren. Es sei gar nicht so leicht gewesen, auf die Schnelle einen Platz für das Freundschaftsspiel zu finden, erzählt Rudolph, doch der Berliner Fußballverband sei behilflich gewesen.

Nicht nur am Dienstag in Berlin, auch am Freitag in Leipzig wird Halil İbrahim Dinçdağ ein Spiel pfeifen. Dort werden dann zwei Teams des Vereins Roter Stern Leipzig gegeneinander antreten. Neben den Fußballpartien wird es jeweils auch zwei Veranstaltungen geben: am Sonnabend im Leipziger »Fischladen« und am Donnerstag in der »Tristeza« in Berlin-Neukölln. Dort werden neben Dinçdağ auch Daniela Wurbs vom europaweiten Fanverband Football Supporters Europe sowie Hakan Taş, ein Aktivist der Lesben- und Schwulenbewegung, der auch für Die LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt, zu Gast sein.

Darüber hinaus wird Dinçdağ wohl einen regelrechten Interviewmarathon zu bewältigen haben, denn das Interesse an seiner Geschichte ist riesig. »Wir sind selbst ganz gespannt, was er zu erzählen hat«, erzählt Rudolph. Nach den Protesten rund um den Gezi Park habe sich die Situation von Schwulen, Lesben und Transsexuellen zumindest in Istanbul merklich verbessert, heißt es. Doch gerade in diesen Tagen, in denen die rechtskonservative Partei AKP von Premierminister Recep Tayyip Erdoğan allen Vorwürfen der Korruption zum Trotz gestärkt aus den Kommunalwahlen hervorgegangen ist, fällt es schwer, das auch wirklich zu glauben. Es wird daher interessant sein, zu hören, wie Dinçdağ die aktuelle Situation erlebt und empfindet - als einer, der es wissen muss, weil er nicht in Erdoğans reaktionäres Bild der Türkei passt.

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