Ukraine-Konflikt schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg

Europarat: Wird Moskau das Stimmrecht entzogen? / Republikaner kritisieren US-Kurs gegenüber Russland als zu zaghaft / Außenminister Kerry verteidigt neuen Gesprächsversuch

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Berlin. Der Ukraine-Konflikt hat sich nach Einschätzung westlicher Beobachter inzwischen zur schwersten Krise in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt. Der Europarat erwägt, seinem Mitglied Russland das Stimmrecht zu entziehen. Die parlamentarische Versammlung des Europarats stimmt am Donnerstag darüber ab. Auch der Europarat erhöhte den Druck auf Moskau. Angesichts immer neuer Gewaltexzesse in der Ostukraine hatte die Regierung in Kiew zuvor eine härtere Gangart in der Region eingeschlagen.

Truppen des ukrainischen Innenministeriums hatten zuvor in der Millionenstadt Charkow ein von prorussischen Aktivisten besetztes Verwaltungsgebäude geräumt. 70 Menschen wurden festgenommen. Wenn die gespannte Lage nicht friedlich gelöst werden könne, würden Einheiten nun gewaltsam gegen »Terroristen« vorgehen, kündigte der Chef der Präsidialverwaltung, Sergej Paschinski, an. Er forderte die prorussischen Aktivisten auf, die seit Sonntag in Donezk und Lugansk besetzten Gebäude zu räumen. Im Osten der Ukraine wurden in den vergangenen Tagen zwei Journalisten angegriffen, während in Charkow, Donezk sowie in der Stadt Lugansk wurden Redaktionsräume von bewaffneten, maskierten Männern angegriffen, berichtete das Komitee zum Schutze von Journalisten (CPJ) in New York.

Russland warnte vor Gewalt und wies eine Verantwortung für die Lage in der Ukraine zurück. »Wir fordern, alle militärischen Vorbereitungen unverzüglich einzustellen, die einen Bürgerkrieg nach sich ziehen können«, erklärte das Außenministerium in Moskau. Russland, das sich im März die ukrainische Halbinsel Krim einverleibt hatte, fordert eine weitreichende Föderalisierung der Ex-Sowjetrepublik. Die Ukraine lehnt dies aus Angst vor einem Zerfall des Landes ab.

Derweil laufen in der Ukraine-Krise neue Bemühungen zur Entschärfung der Lage. Doch diese stehen auch unter dem Eindruck der jeweiligen innenpolitischen Situation in den beteiligten Staaten. Wegen der teils als zu zaghaft kritisierten Russland-Politik der USA hat sich Washingtons Chefdiplomat John Kerry einen scharfen Schlagabtausch mit Senatoren geliefert. Der einflussreiche Republikaner John McCain warf dem Außenminister am Dienstag vor, im Konflikt um die Ukraine einen »sehr kleinen Stock, vielmehr einen Zweig« zu tragen. Damit spielte er auf die Doktrin des ehemaligen Präsidenten Theodore Roosevelt an, die lautete: »Sprich sanft und trage einen großen Knüppel, Du wirst weit kommen.« Die USA hätten es nicht geschafft, angemessen auf die seit Monaten schwelende Krise in der Ukraine zu antworten, sagte McCain - und deutete an, dass Kerry von Russland ausgetrickst worden sei. »Wenn der russische Außenminister Dir einmal, zweimal, dreimal, viermal ins Gesicht lügt, wäre ich abgeneigt, ihn für irgendetwas beim Wort zu nehmen.«

Kerry, der sich in mehreren Treffen mit seinem Kollegen Sergej Lawrow um eine diplomatische Lösung der Krise bemüht hatte, bezeichnete McCains Worte als »voreiliges Urteil«. Die »harte Realität« sei, dass das Verhältnis zu Moskau »Momente von Bestürzung und Konflikt«, aber auch von Zusammenarbeit geprägt sei, sagte der 70 Jahre alte Minister im Außenausschuss des Senats. Die russische Regierung müsse entsprechende Maßnahmen noch vor den für kommende Woche angesetzten Gesprächen ergreifen, sagte Kerry bei einer Senatsanhörung in Washington.

Zu den von Kerry eingeforderten Schritten gehört ein Rückzug russischer Truppen aus dem Grenzgebiet zur Ukraine sowie ein Ende der prorussischen Agitation in der Ostukraine. »Es ist klar, dass russische Spezialkräfte und Agenten der Katalysator hinter dem Chaos der vergangenen 24 Stunden waren«, sagte Kerry in Washington.

Kommende Woche der US-Spitzendiplomat sich erneut mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow treffen, um einen Weg aus der Krise zu finden. Dabeisein sollen nach EU-Angaben auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sowie der ukrainische Außenminister.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) rief Russland auf, mäßigend einzuwirken. »Wir sehen die Vorkommnisse dort mit zunehmender Sorge«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Insbesondere verlangte die Bundesregierung von Moskau, Einfluss auf die prorussischen Kräfte zu nehmen, damit diese »von jeder Gewaltanwendung Abstand nehmen«. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen warnte Russland vor einem Einmarsch in das Nachbarland. »Jede weitere Bewegung in die Ostukraine hinein wäre eine ernste Verschärfung der Lage statt jener Entschärfung, die wir uns alle wünschen.« Rasmussen forderte den Abzug der im Grenzgebiet zur Ukraine stationierten russischen Truppen. Nach Angaben der Nato-Militärs stehen dort 35 000 bis 40 000 einsatzbereite russische Soldaten. Die USA beorderten einen mit Flugabwehrraketen ausgestatteten Zerstörer von Spanien aus ins Schwarze Meer. dpa/nd

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