Jugendämter stehen vor dem Kollaps

Gestiegene Fallzahlen und weniger, dafür gestresste Mitarbeiter machen die Hilfe für Familien schwer

Berliner Jugendämter weisen seit Jahren auf gestiegene Fallzahlen und eine hohe Arbeitsbelastung hin. Die Kritik verpuffte bisher ungehört. Im April wollen Mitarbeiter vor dem Bildungssenat protestieren.

Wie eine intensive Betreuung von Familien aussieht, die in großen Schwierigkeiten stecken, darüber hat Barbara Berry schon lange nicht mehr nachdenken können. Dafür weiß sie genau, was in den Akten der Familien steht, die sie mehr oder weniger nur noch »verwaltet«. Seit über 20 Jahren ist Barbara Berry Sozialarbeiterin, mittlerweile arbeitet sie im Jugendamt Mitte, Bereich RSD, Regionaler Sozialpädagogischer Dienst. Beim RSD landen die riskanten Fälle. Familien, in denen Kinder akut von Gewalt oder Vernachlässigung bedroht sind, ein Elternteil drogenabhängig oder psychisch krank ist.

Momentan bearbeitet Berry 80 Fälle, in den meisten leben zwei oder drei Kinder, in einigen aber auch bis zu acht. In sechs dieser Familien gehört häusliche Gewalt zum Alltag, ein Fall von Kindesentführung ist dabei, außerdem einige Gerichtsfälle, bei denen sie neben der Betreuung noch Stellungnahmen und Gutachten für die Richter schreibt. Oft muss sie für kranke Kollegen einspringen und hat dann noch einmal 20 zusätzliche Fälle auf dem Tisch. In zwei der Akten auf ihrem Schreibtisch hat Barbara Berry noch nie einen intensiven Blick geworfen. Dafür war bisher keine Zeit in ihrer 35-Stundenwoche. »Wir können mittlerweile selbst die Standards in der Jugendarbeit nicht mehr gewährleisten«, ergänzt Heike Schlizio-Jahnke, die ebenfalls im Jugendamt Mitte arbeitet. Mit einer Vollzeitstelle bleiben pro Monat gerade einmal 1,5 Stunden pro Familie, hat ihre Kollegin, die Sozialpädagogin Katrin Laaß, einmal ausgerechnet.

Weil Finanzsenator Ulrich Nußbaum (parteilos, für SPD) vor zwei Jahren einen Einstellungsstopp in Teilen des öffentlichen Dienstes verhängte, fehle heute fast der komplette Mittelbauch der Beschäftigten, erzählt Kerstin Kubisch-Piesk, Sozialarbeiterin im Jugendamt Wedding. Es gebe vielfach nur Berufsanfänger und die völlig überarbeiteten Kollegen mit langer Berufserfahrung. Im Bezirksamt Mitte müssten laut Stellenplan elf Stellen besetzt sein, tatsächlich sind es acht und eine halbe. Viele Berufsanfänger halten den Job nicht lange durch und bewerben sich weg, auch, weil das Einstiegsgehalt mit 1400 Euro netto vielen zu gering ist. Im Dezember letzten Jahres hatte das Jugendamt Mitte aus Protest weiße Fahnen aus den Fenstern gehängt, die symbolische Kapitulation. Seitdem ist der Protest verpufft. Der Senat verweist an die Bezirke, die für die Personal- und Mittelausstattung der Jugendämter verantwortlich sind. Die spielen den Ball wieder zurück zum Senat. Es fehlten die Gelder. Eigentlich sollten mit dem neuen Haushalt 2014/15 rund elf Millionen Euro zusätzlich in die Kinder- und Jugendarbeit investiert werden. Das blieb aus.

Jugendamtsleiter der zwölf Bezirke hatten vor fast zwei Jahren an den Regierenden Bürgermeister, zuständige Senatsverwaltungen und Jugendstadträte in einem offenen Brief appelliert, dass Kürzungen und nicht neu besetzte Stellen im Personalbereich irgendwann zum Kollaps der Jugendarbeit führen werden. Wie schon beim Protest in Mitte blieb eine Reaktion aus. Im Februar 2013 verwies die Bildungsverwaltung lediglich auf eine Analyse aus dem eigenen Haus über die Personalausstattung in den Jugendämtern, an der man sich bitte orientieren solle.

Am 30. April wollen die Jugendamtsmitarbeiter vor die Senatsbildungsverwaltung ziehen und noch einmal ihren Protest kundtun. Ob sie sich ein weiteres Mal abspeisen lassen? »Nein, langsam reicht's«, sagt Heike Schlizio-Jahnke.

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