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»Trotz alledem«: Keine muss, alle wollen

Die Doku »Trotz alledem« zeigt die starken Frauen von Rojava und ihr selbstbestimmtes Leben nach Krieg und Terror

Alles selbst in der Hand zu haben, das ist in Jinwar das absolute Gefühl von Freiheit.
Alles selbst in der Hand zu haben, das ist in Jinwar das absolute Gefühl von Freiheit.

Es ist so als würde ein Mensch, der jahrzehntelang in einer Höhle gelebt hat, dass erste Mal Tageslicht erblicken. So erzählt die alte Frau, die mit ihren großen, schweren Händen auf dem Acker Petersilie erntet, von der Zeit als in Kobanê der IS zurückgeschlagen wurde. Jahrelang hatte sie nicht ihr Haus verlassen, die Kinder mit ihr. Was für eine Befreiung das war, endlich wieder eine kleine, aber essenzielle Form der Freiheit zu spüren. Inzwischen lebt sie zusammen mit anderen Frauen in dem selbst verwalteten Dorf Jinwar (kurdisch für Land der Frauen), westlich von Dirbêsiyê in Nordsyrien. Ein Sehnsuchtsort für Kurdinnen, Araberinnen, aber auch für Frauen weltweit, die genug gelitten und gehorcht haben. Hier betreiben sie in einer kollektiv organisierten Gemeinschaft Landwirtschaft, eine Bäckerei, eine Schule, eine kleine Ambulanz mit Heilkräutergarten. »Wir brechen die Klischees«, ruft eine aus, während sie am Traktor schraubt.

Filmemacher Robert Krieg, der seit mehr als 40 Jahren in seinen Werken basisdemokratische Initiativen im Nahen Osten filmisch begleitet, hat dieses Dorf und die gesamte Region Rojava für seine neue Dokumentation »Trotz alledem« besucht, um dort Frauen zu zeigen, denen nach Zerstörung und massiver Unterdrückung, das schier unmögliche gelungen ist: Selbstermächtigung und Heilung.

In westlichen Gesellschaften, für die scheinbar nur noch das Attribut disruptiv zu gelten scheint, sind solche auf Solidarität basierenden Lebensformen schlicht irreal, wirken wie eine Erzählung vom Mars.

Wir sehen die technikaffine Argin, die sich um die Instandhaltung der schweren landwirtschaftlichen Maschinen kümmert, die Kunsthandwerkerin Jehan, die prächtig verzierte Bilderrahmen herstellt, die alleinerziehende Delal, die vielseitige Sidan, die Taekwondo-Lehrerin Ghoufran und die gehörlose Seidenstickerin Hiba. Alle wirken zuweilen ausgelaugt, angestrengt. Selbstorganisation, Abgrenzung gegen die patriarchalen Konventionen und der ständige Mut, als Außenstehende zu gelten, sind harte Arbeit. Aber sie alle erzählen, wie glücklich sie sind, seit sie in Freiheit leben. Der Film stellt neben dem Dorf Jinwar auch andere Frauenprojekte und ihr selbst organisiertes Leben vor: einen multireligiösen Essens-Lieferservice für berufstätige Frauen, eine Schneiderin, eine Künstlerin, eine Frau, die ein Museum für kurdische Kunst betreibt und mit Tiktok- und Facebook-Videos ihre Botschaft von Vielfalt und Stärke verbreitet. »Mit Prinzipien und Verstand können wir hier alles erreichen«, sagt Sidan aus Jinwar dann auch in einer Szene und dieser Spirit durchzieht den ganzen Film.

Was wir nicht sehen, sind Männer. Außer vielleicht unter den Kindern, die die Frauen mit ins Dorf bringen. Männer tauchen auf als Menschen, die unterdrücken, die gewalttätig sind, die ihre Frauen einsperren, ihnen ihre Kinder wegnehmen. Das Patriarchat in seiner vollen Hässlichkeit. Vielleicht ist es nur aus dieser Perspektive wirklich zu verstehen, was Freiheit, was dieses Dorf oder ein selbstbestimmtes Leben in der Region für die Frauen bedeutet. Und vielleicht ist es auch nur aus dieser Unterdrückungserfahrung zu verstehen, warum die Gemeinschaft in Jinwar überhaupt funktioniert. Robert Kriegs Film erzählt darüber nämlich ansonsten relativ wenig. Wir erfahren nicht, welche Grenzen eine Gemeinschaft hat, die auf Selbstorganisation und Solidarität gründet. Wer wird aufgenommen, wer nicht? Wenn alle hier willkommen sind, welche Regeln gibt es? Was passiert, wenn man sich nicht an sie hält?

Das alles will »Trotz alledem« nicht wissen. Es wäre aber irgendwie auch Teil der Wahrheit gewesen. Fast ist alles zu schön, um zu glauben, dass ein auf Selbstorganisation basierendes Zusammenleben so völlig ohne Konflikte auskommt. Nie ist im Film von Widerspruch innerhalb der Frauengemeinde die Rede. In einer der zweiwöchentlich stattfindenden Versammlungen schlägt eine ältere Frau vor, demnächst Kichererbsen und Linsen anzupflanzen. Es wird nicht darüber diskutiert, ob das wirtschaftlich oder irgendwie sinnvoll ist, sondern zugestimmt, zeitnah werde man das umsetzen. Kann das alles wirklich so störungsfrei sein? Aber vielleicht ist das auch eine Frage, die man sich nur stellen kann, wenn man den Hang dazu hat, sich selbst zu wichtig zu nehmen.

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Den Frauen geht es darum, aus dem Nichts, aus Krieg, Zerstörung und der eigenen Kraft heraus etwas zu schaffen, was ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Es geht um die Selbstsicherheit, es schaffen zu können, wenn alle mit anpacken. Das ist zentral. Alle sind involviert, keine hegt Eitelkeiten, Egoismen, ist sich für irgendwas zu schade. Das kann man sich hier nicht leisten. Jede schafft das, was sie kann, keine muss, aber alle wollen. Das ist das, was Robert Krieg zeigen will und das gelingt ihm auch eindrücklich. In westlichen Gesellschaften, für die scheinbar nur noch das Attribut disruptiv zu gelten scheint, sind solche auf Solidarität basierenden Lebensformen schlicht irreal, wirken wie eine Erzählung vom Mars – und als hätten wir im Westen damit nichts zu tun. Als wäre es schlicht unmöglich, sich auf gegenseitige Rücksichtnahme, Solidarität, Fairness und Unterstützung zu einigen. Dabei sind das ja dort in Rojava dieselben Menschen mit denselben Bedürfnissen, Ängsten oder Vorstellungen von einem guten Leben. Wer an gar nichts mehr glaubt, der könnte meinen, man müsse erst alles kaputtschießen, den Menschen ihre Würde nehmen, um das zu kapieren.

Die Leerstellen bleiben. Was passiert mit der Region, seit die islamische Miliz HTS in Syrien das Sagen hat? Welche Pläne hat die türkische Regierung? Die Autonomie der Region ist seit jeher fragil.

Der Film ist ein riesiges Ausrufezeichen, das sagt ja auch der Titel. Am Ende sagt eine Frau, die Jugendlichen, denen hier eine Ausbildung gelingt, verließen das Dorf, um woanders wirklich erfolgreich zu sein. Wie kann man da noch denken, wir hätten mit all dem nichts zu tun?

»Trotz alledem«, Deutschland 2025. Regie: Robert Krieg. 90 Minuten, Start: 12. Juni

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