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Integrative Wüstenschule

Der Lehrer Castro macht sich mitten in der Sahara für die Rechte geistig Behinderter stark

  • Frank Odenthal
  • Lesedauer: 4 Min.
Sie liegt zwischen Felsen und Dünen unter gleißender Sonne: Mit einer Sonderschule mitten in der Sahara kämpft Buyema Fateh alias Castro für die Rechte geistig Behinderter.

Heute ist Castro selbst an der Reihe. Er beginnt damit, den Schülern zu seiner Rechten mit einer Messingkanne Wasser in ihre Becher zu gießen. Morgen wird den Getränkedienst Mohammed übernehmen. Der angesprochene Junge hat das Down-Syndrom, und er grinst bis weit über beide Ohren. Die Wasserausgabe ist Mohammeds Steckenpferd, erklärt Castro.

Die Szene wiederholt sich bei jeder Essenspause, das Ritual illustriert Castros wichtigstes Schulprinzip: Der Rollentausch unterstreiche die Gleichheit aller, und die sei das Fundament der Einrichtung. Dass jeden Tag ein anderer das Wasser verteilt, zeige den Kindern, dass sie ein ebenso wichtiges Element der Gemeinschaft sind wie jedes andere Kind, wie die Betreuer, wie die Menschen draußen in den Camps.

Der Alltag ist karg, aber fröhlich, in Castros Schule für Behinderte im Camp Smara. Der Schulleiter nennt sie lieber »Schule für spezielle Krankheiten«. Er hat sie 2007 gegründet, und weltweit ist sie eine echte Besonderheit: Sie liegt inmitten der algerischen Wüste in einem Flüchtlingslager der Sahrauis, den Vertriebenen aus der Westsahara.

Seit bald 40 Jahren leben rund 170 000 geflohene Sahrauis in der Hamada, dem trockensten, unwirtlichsten Teil der Sahara. Die Flüchtlinge betonen den provisorischen Charakter ihrer Unterkünfte. Auch wenn die Orte wie ärmliche Städte wirken, nennen die Vertriebenen sie beharrlich Camps. Viele der Männer kämpften und kämpfen in der Widerstandsbewegung Frente Polisario noch immer gegen die marokkanischen Besatzer. Die Hälfte des sahrauischen Volkes lebt allerdings, von Algerien stark unterstützt, im sandigen Exil unter brütender Wüstensonne.

Castro heißt eigentlich Buyema Fateh und wurde in El-Aaiun geboren, der Hauptstadt der Westsahara. Die Leute fanden, der junge Buyema sehe dem kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro ähnlich, den Spitznamen wurde er nicht mehr los.

Neben dem Rollentausch bei den alltäglichen Aufgaben hat Castros Schule noch weitere Besonderheiten: »Wir unterscheiden nicht zwischen Jungen und Mädchen, nicht in den Klassenräumen und auch nicht im Speisesaal«, sagt Castro. »Wir wollen den Kindern zeigen, dass wir vor Gott alle gleich sind.«

Manche lernen bei Castro nähen, andere kochen, wieder andere tischlern oder ein anderes Handwerk. Meist dauere es nicht lange, bis ein Kind seine persönliche Spezialität entwickle. Viele erlernen auch das Rechnen, Lesen und Schreiben. Letztlich gehe es um Autonomie, erklärt der Schulleiter. Es gehe um die Fähigkeit, eines Tages ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Anfangs habe man ihn belächelt. »Sie behaupteten, ich sei durchgeknallt, betrunken oder auf Drogen. Ich sei selbst verrückt und gehöre als Patient in meine eigene Schule.« Davon ist heute keine Rede mehr. Castro ist eine der prominentesten und meistgeschätzten Personen in den Lagern nahe der algerischen Garnisonsstadt Tindouf. Auch ausländische Besucher sind auf die Schule aufmerksam geworden. Regelmäßig besuchen Ärzte, Lehrer und Studenten aus Europa und Asien die Camp-Stadt. Sogar der greise algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika sei schon da gewesen.

Eine Menge hoher Besucher für jemanden wie Castro, der in seinem Leben selbst fast nur gelernt hatte, was nötig war, um eine Schafherde zu hüten. Zwar schmückt ein Doktortitel seine Visitenkarte, doch den hätten ihm die Menschen in seiner Flüchtlingsstadt verliehen. Er bedeute einfach, dass er gute Arbeit mache, auch wenn er nie eine Universität besucht hat.

Mit 17 Jahren hatte sich Castro dem Kampf für ein unabhängiges Westsahara angeschlossen, doch 1982 verließ er die Armee. Schon immer sei er zutiefst beschämt darüber gewesen, wie die Sahrauis mit Behinderten umgingen. Als die Angehörigen seines Volkes noch als Nomaden lebten, wurden behinderte Menschen oft in den Zelten angebunden. Damals habe er erkannt, dass er nicht mehr gegen andere Soldaten, sondern für Behinderte kämpfen wollte.

Einmal pro Woche kommt sein zehnköpfiges Team zusammen und bespricht Lernerfolge und Probleme in der Schulgemeinschaft. 59 Kinder sammeln Castro und seine Helfer allmorgendlich mit dem Geländewagen im Camp Smara ein und bringen sie nach dem Mittagessen zu ihren Familien zurück. »Selbst aus den anderen Camps wollen die Eltern ihre Kinder zu uns bringen. Doch dafür reichen unsere Kapazitäten nicht aus.«

Expandieren allerdings will Castro nicht, denn darunter würde der Unterricht leiden. Seine Schule hängt, wie fast alle Institutionen der sahrauischen Flüchtlinge, direkt von der finanziellen Unterstützung Algeriens ab. Außerdem ist die Schule auf Spenden aus Europa angewiesen, etwa für die teuren Medikamente, die einige Kinder benötigen.

Und sie lebt vom Geist der Gleichheit, den Castro predigt und vorlebt. Wenn morgen Mohammed mit seinem geliebten Wasserdienst fertig ist, schenkt am Tag darauf Fatima, die Pflegerin, die Getränke für das Mittagessen aus. Und dann eben wieder eines der behinderten Kinder. In Castros Haus sind eben alle gleich.

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