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Die EU ist keine Scheindemokratie

Sven Giegold über seine Arbeit im Europaparlament und das Freihandelsabkommen mit den USA

  • Lesedauer: 7 Min.
Sven Giegold, mit Rebecca Harms Spitzenkandidat von Bündnis 90/Die Grünen bei der Europawahl, gehörte im Jahr 2000 zu den Gründern des deutschen Ablegers von Attac. Ende 2008 trat er den Grünen bei und legte alle Attac-Ämter nieder. 2009 kandidierte er erfolgreich für das EU-Parlament und wurde wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. Der 44-Jährige ist zudem mit Spitzenpolitikern von SPD und Linkspartei im Vorstand des »Instituts Solidarische Moderne«. Mit ihm sprach Sebastian Grundke.

nd: Neben der Europawahl beherrscht vor allem ein EU-Thema derzeit die Medienwelt: das geplante Freihandelsabkommen mit den USA, das »Transatlantic Trade and Investment Partnership« (TTIP). Warum wird dieses Abkommen größtenteils hinter verschlossenen Türen verhandelt?
Giegold: Die Bundesregierung klagt selbst über die Geheimhaltung, tut aber nichts dagegen. Deshalb haben wir Grünen das Mandat auf Deutsch für die Bürgerinnen und Bürger im Internet zugänglich gemacht. Andere wichtige Verhandlungsdokumente sind vollständig geheim, darunter die Forderungen der Amerikaner zur Schwächung europäischer Standards. Hier geht es um die Interessen von Großkonzernen, die durch Gesundheits- und Umweltstandards ihre Gewinne bedroht sehen, statt um Anliegen von Verbraucherinnen und Verbrauchern.

Sie und die anderen Grünen-Politiker, die die Leitlinien für die Verhandlungen des Abkommens trotz Geheimhaltungsverpflichtung veröffentlicht haben, kritisieren also nicht nur das Vorgehen an sich?
Der zentrale Grund, warum wir Grünen das Abkommen kritisieren, ist nicht, dass dadurch nationale Regeln untergraben werden. Wir wenden uns dagegen, dass das Abkommen unmöglich macht, dass wir als Europäer gemeinsam kontrollieren können, wie unser Binnenmarkt aussehen soll. Es sieht ein Streitbeilegungsverfahren vor, das Konzernen faktisch die Möglichkeit geben wird, gegen höhere soziale und ökologische Regeln zu klagen. Wenn wir in Zukunft, sobald wir derlei Standards in der Produktion oder beim Verbraucherschutz erhöhen wollen, uns immer erst mit Amerika abstimmen müssen, ohne dass wir ein transatlantisches Parlament haben, dann motten wir unsere europäische Demokratie ein.

Was ist die Alternative?
Meiner Ansicht nach müsste zu globalen Regeln in sensiblen Produktstandards auch eine globale Demokratie gehören. In Europa sind wir dabei, eine gemeinsame Demokratie zu erschaffen - weil sie zu einem gemeinsamen europäischen Markt gehört. Dieses parallele Bauen von Markt und Demokratie - beides wird letztlich durch das Abkommen gefährdet.

Sie sehen den Einfluss der EU-Demokratie bedroht. Die wird allerdings ohnehin häufig als Scheindemokratie wahrgenommen, deren Einfluss auf die Bürger letztlich gering ist.
Ich halte den Begriff der Scheindemokratie für falsch. Ich habe in den vergangenen Jahren als Abgeordneter im Europaparlament gesehen, wie viel Einfluss die Mehrheitsverhältnisse im Parlament haben. Momentan ist die Mehrheit liberal-konservativ und an vielen Stellen sind wir mit einer besseren Finanzmarktregulierung, mit besserem Verbraucherschutz oder mehr Umweltschutz genau an dieser liberal-konservativen Mehrheit gescheitert.

Insofern wird der Wille der Bürger in Brüssel sehr wohl in Politik übersetzt. Was auch bedeutet, dass die anstehende Europawahl einen großen Einfluss darauf hat, wie Europa in den kommenden fünf Jahren ausgestaltet wird. Das lässt sich auch daran ablesen, dass hoch bezahlte Lobbyisten das Parlament geradezu belagern. Das würden die doch nicht machen, wenn dort keine Entscheidungen von Tragweite gefällt würden.

Vielleicht werden die Lobbyisten genau dafür bezahlt, den Einfluss Brüssels zu lähmen, um jenen auf nationaler Ebene zu sichern.
Es ist im Gegenteil so, dass die Kontrolle durch die Medien und kritische Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene sehr viel besser funktioniert und dadurch natürlich auch die Arbeit von Lobbyisten unter stärkerer Beobachtung steht. Wenn Sie die Wichtigkeit der Entscheidungen auf EU-Ebene ins Verhältnis setzen zum Platz, den EU-Politiker in Talkshows, in Nachrichtensendungen und in den Zeitungen eingeräumt bekommen, dann ist dieser Platz im Vergleich zu dem, der Politikern der nationalen Demokratien eingeräumt wird, sehr gering. Dem entspricht, dass alle großen Organisationen - Kirchen, Sozialverbände, Gewerkschaften - weitestgehend nationale Veranstaltungen sind.

Sie sind seit 2008 Mitglied der Grünen. Bekannt wurden Sie durch Ihr Engagement als Aktivist bei der globalisierungskritischen Organisation Attac. Braucht es nun eine Partei oder eine Bürgerrechtsbewegung, um politisch Einfluss zu nehmen?
Ich denke, dass es immer beides braucht. Große Veränderungen durchsetzen, das kann kein gewählter Abgeordneter allein. Sie brauchen immer ausreichend Unterstützung aus der Bevölkerung und die drückt sich vor allem in einer aktiven, kritischen Bürgergesellschaft aus.

Dennoch unterscheidet sich die tägliche Arbeit eines Abgeordneten von der in einer Bürgerinitiative. Als Sie von Attac in die damals schon etablierte grüne Partei wechselten, welche Opfer mussten Sie da bringen?
Im EU-Parlament zu arbeiten ist wirklich alles, nur kein Opfer. Ich empfinde es vielmehr als großes Geschenk, an der europäischen Idee mit anderen wirken zu können und tue das wirklich sehr gern. Aber ich habe natürlich Dinge über den Politikbetrieb gelernt, die ich vorher einfach nicht wusste.

Zum Beispiel?
Ich sage es mal etwas pathetisch: Parteipolitik ist ein liebloses Geschäft. Jedenfalls im Vergleich zur Arbeit in einer Bürgerinitiative. Weil durch den Wahlmechanismus die Konkurrenz viel stärker im Vordergrund steht als das Miteinander. Zudem muss ich als Parteipolitiker mein Handeln immer den Wählern gegenüber rechtfertigen. Das muss eine Bürgerinitiative nicht, dort steht das gemeinsame Ziel im Vordergrund.

Würden Sie den Schritt in eine Partei erneut gehen?
Ja. Ich möchte teilhaben an der Macht, jene Ideen mit durchzusetzen, für die ich früher auf der Straße gestritten habe.

Wo haben Sie mehr erreicht - bei den Grünen oder bei Attac?
Wenn Sie das in Gesetzen messen, habe ich natürlich bei den Grünen im Europaparlament ungleich mehr erreicht als während meiner politischen Arbeit zuvor. Wenn es aber darum geht, bestimmte Ideen überhaupt erst einmal hoffähig zu machen, welche dann später mächtig werden - dann hat sicherlich Attac mehr erreicht. Attac hat bestimmte Forderungen popularisiert, die dann während der Finanzkrise, in diesem entscheidenden Moment, ihre politische Umsetzung gesehen haben. Insofern lässt sich das eine nicht vom anderen trennen und auch schlecht vergleichen.

Waren Sie also zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um mit Attac-Inhalten auch parteipolitisch zu landen?
Für mich war es jedenfalls ein Glücksfall, direkt nach der Krise im EU-Parlament gewesen zu sein. Denn die Liste der Erfolge, also dessen, was ich habe bewegen können, ist tatsächlich sehr lang. Wäre ich vor zehn Jahren im EU-Parlament gewesen, hätte ich vermutlich im Bereich der Finanzmärkte überhaupt nichts erreicht.

Sie sind mit manchen Anliegen aber auch gescheitert.
Ja, aber es ist doch völlig normal, dass die Welt nicht so ist, wie ich sie gerne hätte. Das ist ja auch Teil der Demokratie, dass nicht eine Person oder eine Partei alles durchsetzen kann. Deshalb haben sich manche meiner Vorhaben oder manche der Grünen eben nicht durchgesetzt.

Zum Beispiel Ihr Ziel aus Attac-Zeiten, Steueroasen trockenzulegen.
Wobei ich finde, da sind wir gerade dabei, wirklich große Fortschritte zu machen. Vor allem in den vergangenen zwei Jahren ist dieses Ziel näher gerückt. Dank »Offshore-Leaks« und auch dank kritischer Journalisten und Whistleblower hat sich da viel bewegt. Die Schweiz ist kurz davor, automatisch Steuerinformationen mit anderen Ländern auszutauschen. Dadurch würde die wichtigste und renitenteste Steueroase für Privatpersonen transparent. Das ist ein gigantischer Fortschritt.

Sehen Sie solche Fortschritte auch in Sachen Krisenmanagement in den betroffenen EU-Ländern?
Das Europaparlament war schwach bei der sozialen Ausgestaltung der Reformen in den Krisenländern. Dort wurden eben nicht die Reichen besteuert und die Ärmsten geschont. Sondern es wurde stattdessen umgekehrt der Reichtum gepflegt und die Kürzungen wurden gegenüber den Schwächsten durchgesetzt. Das ist wirklich bitter. Das wiederholt sich in meinen Augen gerade in der Ukraine und das finde ich fürchterlich.

Was wiederholt sich?
Die Hilfen an die neue ukrainische Regierung sind an Auflagen geknüpft, die denen für Griechenland ähneln. Da wurde offensichtlich nichts dazugelernt.

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