Homer der Transsibirischen

Mit der Eisenbahn in die Literaturgeschichte

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 6 Min.

Wenn du liebst, geh auf die Reise«. Blaise Cendrars (1887-1961) gilt in der französischsprachigen Literatur als Reiseschriftsteller par excellence. Die literarischen Werke des Schweizers, geboren als Frédéric Louis Sauser in La Chaux-de-Fonds, atmen das Mysterium des Reisens und spiegeln es auf besondere Weise wider. Er hat Reise und Literatur stets miteinander verknüpft, einem seiner Bücher gab er den programmatischen Titel »Bourlingeur« (Globetrotter), in der deutschen Fassung heißt es »Auf allen Meeren«. Vor 100 Jahren trat er spektakulär ins Rampenlicht der Literatur, als er zusammen mit der Malerin Sonia Delauney ein Langpoem veröffentlichte, dessen voller Titel »Die Prosa von der Transsibirischen Eisenbahn und der kleinen Jehanne von Frankreich« lautet.

Der in seiner Bildsprache bereits surreal anmutende und vielfach verstörende Text, bestehend aus 446 freien Versen, begründete nicht nur den Mythos dieser mit 9288 Kilometer längsten Bahnstrecke der Welt, sondern bescherte dem Dichter auch die Aufmerksamkeit der Avantgarden. »Die Sorgen / Vergiss die Sorgen / All die heruntergekommenen, schiefen Bahnhöfe entlang der Strecke / Die Telefondrähte, an denen sie hängen / Die fratzenschneidenden Masten, die gestikulieren und sie erdrosseln«.

Das Gedicht stampft im Takt der Lokomotiven und rast im fiebrigen Rhythmus des letzten europäischen Friedensjahres. Es zerschneidet die Zeit, wirft mit Assoziationen um sich und hetzt sich ab in die Verzweiflung des Getriebenen. »Und in Ufa das blutüberströmte Gesicht des Kanoniers / Und das sinnlos leuchtende Zifferblatt von Grodno / Und der Zug überholt unaufhörlich die Zeit / Jeden Morgen stellt man die Uhren neu / Der Zug geht vor, und die Sonne geht nach«. Assoziativ fließen Poesie und Leben ineinander, durchaus im Einklang mit Cendrars’ Bekenntnis: »Jedes Leben ist nur Gedicht, Bewegung.«

Dieses Kunstwerk elektrisierte die Pariser Kunst- und Literatenzirkel. Der amerikanische Schriftsteller John Dos Passos beförderte seinen Freund nach erfolgter Lektüre schnurstracks zum »Homer der Transsibirischen«.

Aber ist Cendrars jemals mit der Transsibirischen gereist? Bereits Zeitgenossen und Freunde des Autors hegten Zweifel. Einer Anfechtung des französischen Medienmanns Pierre Lazareff entgegnet Cendrars mit dem berühmt gewordenen Ausspruch: »Was kann dir das ausmachen, da ich euch doch alle habe mitreisen lassen.«

Es ist gewiss kein Zufall, dass sich zwei neue Publikationen mit dem Dichter beschäftigen. Der französische Psychoanalytiker und Literaturprofessor Pierre Bayard widmet sich in seiner überaus amüsanten Betrachtung »Wie man über Orte redet, an denen man nie gewesen ist« auch der Entstehung des Gedichts, das nach Ansicht etlicher Biografen auf die Erlebnisse einer tatsächlich stattgefundenen Reise zurückgreifen soll, die Blaise Cendrars (Braise et cendres: Glut und Asche) noch unter seinem bürgerlichen Namen als 16-Jähriger in Begleitung eines Geschäftsmannes angetreten habe, nachdem er von zu Hause weggelaufen war. Noch seine Tochter Miriam geht in ihrer 1986 erschienenen Biografie von einer faktisch stattgefundenen Reise aus.

Bayard argumentiert, dass eine solche kaum wahrscheinlich ist. Zwar sei es möglich gewesen, dass Cendrars bei seiner Ankunft in Russland die Eisenbahn, mit deren Bau 1891 begonnen wurde und die 1904 mehr oder weniger fertiggestellt war, gesehen habe. Jedoch sei es wegen des russisch-japanischen Krieges (seit Februar 1904) einem Zivilisten kaum möglich gewesen, Fahrkarten zu erhalten. Die Kapazitäten wurden durch Truppentransporte ausgeschöpft. Der Dichter selbst nimmt in seinem Gedicht mehrmals auf die Kriegsgräuel Bezug: »In den Lazaretten sah ich klaffende Wunden, Verletzungen, aus denen das Blut herausschoss / Und die amputierten Gliedmaßen tanzten drum herum oder flogen in die rauhe Luft«. Imagination oder düstere Vorahnung?

Im Sommer 1914 meldet sich Cendrars als Freiwilliger zur Fremdenlegion. Als Schweizer in Paris lebend, verteidigt er seine Wahlheimat gegen die Deutschen. Am 28. September 1915 wird er schwer verwundet. Sein rechter Arm wird oberhalb des Ellenbogens amputiert.

Die Schweizer Literaturzeitschrift »Orte« (Nr. 173) widmete ihre April-Ausgabe 2013 Leben und Werk Cendrars‘. Barbara Traber räumt in einem Beitrag ein, dass der Junge »bei seinem Aufenthalt in Russland von 1904-1907 die Transsibirische zumindest gesehen haben muss.«

Das Gedicht enthält indessen weitere Rätsel. »Blaise, sag, sind wir weit weg von Montmartre?« Wer verbirgt sich hinter Jeanne de France oder Jehanne von Frankreich, die zugleich als Ansprechpartnerin den Text strukturiert wie als Begleiterin präsent ist? Prostituierte und/oder Heilige? Poetische Spuren legt Cendrars in den Versen »Sie ist nur Blume, rein und zart, / Die Blume des Dichters, eine arme Silberlilie, / Ganz kalt, ganz allein und so verwelkt bereits, / Dass mir die Tränen kommen, wenn ich an ihr Herz denke.«

In einem Interview mit der von Herwarth Walden herausgegebenen expressionistischen Berliner Zeitschrift »Der Sturm« (November 1913) fächert er diese Metaphorik assoziativ auf: »Die Prosa von der Transsibirischen ist also durchaus ein Gedicht, da sie das Werk eines Freigeistes ist. Nehmen wir an, sie ist seine Liebe, seine Leidenschaft, seine Schwäche, seine Größe, sein Erbrochenes. Sie ist Teil seiner selbst. Seine Eva. Die Rippe, die er sich ausgerissen hat. Ein sterbliches Werk, verletzt durch Liebe, schwanger. Ein furchtbares Lachen. Leben, Leben. Rot und Blau, Traum und Blut, wie in den Märchen.«

Die Farbbezeichnungen repräsentieren nicht nur einen symbolischen Wert. Gemeinsam mit der gebürtigen Russin Sonia Delaunay (1885-1979), die Cendrars mit ihrem Mann Robert in Paris beim gemeinsamen Freund Guillaume Apollinaire kennen lernt, entwickelt er die Idee, für das Prosagedicht das »Erste Simultanbuch« (Premier livre simultané) zu schaffen.

Nachdem er endlich Geld aufgetrieben hat, vorgeblich die Erbschaft einer Schweizer Tante, realisieren beide gemeinsam die Herausgabe eines Leporellos mit erstaunlichen Ausmaßen: 2 Meter auf 36,5 cm; links die farbigen Bildkompositionen der Malerin, die den Text nicht einfach illustrieren, sondern optisch skandieren, rechts die Verse Cendrars‘, der bekennt: »Ich bin ein Fiebernder. Und aus diesem Grund liebe ich die Malerei der Delauneys. Madame Delauney hat ein so schönes Buch geschaffen, dass mein Gedicht mehr von Licht durchtränkt ist als mein Leben.«

Von geplanten 150 entstehen aus der Vorlage schließlich etwa 60 Exemplare, die wegen ihrer Fragilität in Museen und Bibliotheken versteckt und kaum gezeigt werden. Rare Exemplare, die zur Versteigerung gelangten, sollen bis zu 135 000 Dollar erzielt haben. Wesentlich preiswerter ist das Gedicht immer noch als Buch erhältlich. Die schöne Ausgabe des Lenos Verlags ist mit einem vierfarbigen Faksimile des Leporellos ausgestattet.

Blaise Cendrars: Die Prosa von der Transsibirischen Eisenbahn und der Kleinen Jehanne von Frankreich. Lenos Verlag. 80 S., geb., 18,90 €.

Barbara Traber: Ein Prosagedicht in Form eines zwei Meter langen »Simultanbuchs«. In: Orte. Schweizer Literaturzeitschrift. Nr. 173, April 2013, Einzelheft 8 €.

Pierre Bayard: Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist. Verlag Antje Kunstmann. 224 S., geb., 18,95 €.

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