Peking im Ausnahmezustand

Was wollte die Protestbewegung 1989 in der chinesischen Hauptstadt? Felix Wemheuer sucht nach Antworten.

  • Felix Wemheuer
  • Lesedauer: 3 Min.

Als von Mitte April bis zum 4. Juni 1989 Demonstranten den Platz des Himmlischen Friedens in Peking besetzten, war für die westlichen Medien die Lage klar: Eine anti-kommunistische Demokratiebewegung wollte den Sturz des Systems herbeiführen und wurde schließlich durch den Einsatz der Volksbefreiungsarmee im Blut erstickt. Die damalige finale Krise des Staatssozialismus in Osteuropa ließ in den folgenden Jahren den Sturz der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) als zwangsläufige Notwendigkeit erscheinen. 25 Jahre später ist die Partei jedoch immer noch an der Macht. Aus heutiger Sicht erscheint die Interpretation der Proteste als anti-kommunistische Studentenbewegung jedoch fraglich.

Etwa 2000 Studierende der Pekinger Eliteuniversitäten zogen am 17. April zum Platz des Himmlischen Friedens, um die Rehabilitierung des gerade verstorbenen ehemaligen Parteivorsitzenden Hu Yaobangs zu fordern. Hu war 1987 abgesetzt worden, weil er gegenüber den damaligen Studierendenprotesten Verständnis gezeigt hatte. Die Erkennungsmelodie der Bewegung von 1989 war »Die Internationale«. Die Studierenden knieten anfangs sogar auf den Stufen zur Großen Halle des Volkes nieder, um eine Petition zu übergeben. Sie agierten in der traditionellen Rolle als Vertreter der zukünftigen Elite des Landes, die dem »Kaiser« Vorschläge unterbreitet. Am 19. April gründete sich die »Autonome Arbeiterföderation«, der sich binnen weniger Wochen in der Hauptstadt 20 000 Arbeiter anschlossen. Ihre Manifeste waren stark von der Klassenkampfrhetorik der Mao-Ära geprägt. Auf dem Höhepunkt der Bewegung demonstrierten eine Million Menschen alleine in Peking, und auch in zahlreichen anderen Städten kam es zu Protesten. Einfache Stadtbewohner hatten genug von Korruption, Günstlingswirtschaft und Inflation, die die Wirtschaftsreformen der 1980er Jahre mit sich gebracht hatten. Auf den Dörfern blieb es hingegen weitgehend ruhig.

Die Parteiführer waren überrascht vom Ausmaß des Unmuts. Einige greise Funktionäre fühlten sich an die Kulturrevolution erinnert, als sie selbst Opfer von Studenten und Arbeitern waren. Wie 1966 fielen auch 1989 Proteste der Bevölkerung mit einer Spaltung der KPCh-Führung zusammen. Während die Reformer um Parteichef Zhao Ziyang im Mai 1989 mit den Studierenden sympathisierten, hofften die Hardliner um Premierminister Li Peng auf eine Eskalation.

Durch eine zeitweise positive Berichterstattung in den staatlichen Medien verloren viele Menschen die Angst und schlossen sich der Bewegung an. Die Verhängung des Kriegsrechts am 20. Mai führte zu einer großen Solidarisierung der Stadtbevölkerung mit den Demonstranten. Das Kriegsrecht wurde einfach ignoriert und die Armee von den Massen am Vordringen ins Zentrum der Hauptstadt gehindert. Die offizielle Verurteilung der Proteste als »konterrevolutionärer Aufruhr« hatte zunächst ungewollt eine mobilisierende Wirkung, da die Demonstranten den Platz nicht räumen wollten, bevor ihre Bewegung von der Regierung als »patriotisch« anerkannt wurde. Dass die Volksbefreiungsarmee wirklich scharf schießen würde, konnten sich viele Bürger nicht vorstellen. Schließlich setzte Deng Xiaoping durch, den Platz am 4. Juni mit Panzern zu räumen und die Bewegung niederzuschlagen. Nach einigen Wochen gelang es »Ruhe und Ordnung« im ganzen Land wieder herzustellen. Schätzungen gehen von einigen hundert bis einigen tausend Toten in Peking aus.

Heute gelingt es der KPCh, Massenproteste in der Hauptstadt zu unterbinden. Es kommt jedoch fast täglich zu Streiks und lokalen Bauernunruhen im Hinterland. Im Gegensatz zu 1989 sind heute nicht mehr die Studierenden der Eliteuniversitäten die Hauptakteure, sondern einfache Bauern und Arbeiter. Um Proteste der intellektuellen Elite zu verhindern, wurde sie seit den 1990er Jahren mit großzügigen Privilegien ausgestattet. Die Partei fürchtet die Erinnerungen an den 4. Juni aus zwei Gründen: Eine Debatte um eine Neubewertung könnte die Partei spalten. Außerdem waren die Proteste von 1989 eine klassenübergreifende Massenbewegung. Die inoffiziellen Leitprinzipien der KPCh bleiben daher, die Parteiführung zusammenzuhalten und alle protestierenden Gruppen voneinander zu isolieren. Daher wird sich an der offiziellen Bewertung des »Zwischenfalls« von 1989 als »konterrevolutionärer Aufruhr« in näherer Zukunft wohl nichts ändern.

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