Die Poesie geht eine Zeitung kaufen

Die brasilianische Literatur und der Fußball

  • Michael Kegler
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie fast alles im modernen Brasilien kam auch Fußball von außen ins Land. Ein englischstämmiger Brasilianer brachte ihn 1894 vom Studium im Mutterland mit. Noch lange sollte der Sport Privileg der europäischstämmigen »Weißen« bleiben. Kaum zu glauben, dass die ersten schwarzen Profispieler sich noch das Gesicht hell pudern mussten. Der soeben auf Deutsch erschienene Roman »Schwarz, meine Liebe« von Fernando Molica (Edition diá) thematisiert diesen grotesken Widerspruch der »Rassendemokratie« Brasiliens am Mythos des dunkelhäutigen (deutschstämmigen) Nationalspielers Arthur Friedenreich.

Die Geschichte des Fußballs ist auch in Brasilien ein Spiegel der Verhältnisse. Der Aufruhr rund um den Confederations Cup vor zwei Jahren, Massenproteste gegen Korruption und Verschwendung im Vorfeld der Weltmeisterschaft, erst recht der nervöse Versuch, den Protest zu ersticken, verdichtet wie in einem Brennglas die Lage im ewigen »Land der Zukunft« zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn.

Es gibt kaum brasilianische Romane, in denen der Sport eine zentrale Rolle spielt. Andererseits können sich nur wenige Literaten dem Fußball vollkommen entziehen. Als »Schule der Gewalt und Brutalität« brandmarkte ihn der Pazifist Lima Barreto noch zu Anfang, zunehmend aber wuchs die Begeisterung für die Lieblingsbeschäftigung der Massen. Unzählige Kurzgeschichten ranken sich schließlich um das runde Leder, mit dem insbesondere männliche Schriftsteller Kindheit, Traumata und die Erfahrung von Triumph und Niederlage verbinden.

Seltsamerweise kam erst Mitte der 1980er Jahre jemand auf die Idee, aus diesem Fundus eine Anthologie zusammenzustellen, die 2006 auch in deutscher Übersetzung erschien: »Anpfiff aus Brasilien« (TFM Verlag), mit Texten der damaligen créme der brasilianischen Literatur: João Ubaldo Ribeiro, Sérgio Sant'Anna, Rubem Fonseca, Luís Fernando Veríssimo, João Antônio und sogar dem Dichter Carlos Drummond de Andrade. Mit Ana Maria Martins und Edla van Steen spielten auch zwei Frauen in dieser ersten literarischen Mannschaftsaufstellung Brasiliens mit. Erst zwanzig Jahre später folgte eine weitere (diesmal wieder rein männliche), unter dem Titel »Samba Goal« im vergangenen Jahr auch bei dtv erschienen.

Ebenfalls 2013 publizierte Luiz Ruffato in Deutschland den Band »Der Schwarze Sohn Gottes« (Assoziation A), für den er sieben Autorinnen und acht Autoren der jüngeren Generation um neue Texte rund um den Fußball gebeten hatte. Das Spektrum reicht nun tatsächlich von einer radikal subjektiven »Geschichte« des Fußballs von André Sant'Anna bis zum brutal mythisierten Märchen von Eliane Brum um die Vernichtung des Regenwaldes und seiner Kultur, in deren Zentrum der Ball nur eine schreckliche Nebenrolle einnimmt. Des Weiteren geht es um Schlachthöfe, Friedhöfe und auch das fragwürdige Familienidyll eines »Sonntag im Maracanã«.

Fußball und Literatur schließen sich nicht aus, doch warum sollte ein Land plötzlich aus Fußballpoeten bestehen, nur weil Weltmeisterschaft ist, deren Nebenwirkungen die Leute auch noch zu Tausenden auf die Straße treiben? Hier gilt, was der Dichter Ferreira Gullar 1975 noch zu Zeiten der Militärdiktatur postulierte: »die Poesie / geht an der Ecke eine Zeitung kaufen«.

Brasilien ist in Aufruhr, gleichzeitig ein beispielloses sozialdemokratisches Projekt der Armutsbekämpfung. Frühere Guerilleros sitzen in der Regierung, und immer noch sterben jährlich mehr als 1000 Menschen durch Polizeiübergriffe. Die schönsten Strände liegen in unmittelbarer Nachbarschaft der gefährlichsten (und auch faszinierendsten) Großstädte. All das reflektiert sich in Brasiliens Literatur, die - auch das ein bemerkenswertes Phänomen - im Fahrwasser der (gerade wieder einknickenden) wirtschaftlichen Prosperität seit der Jahrtausendwende einen Boom erlebt und so widersprüchlich ist wie das Land selbst.

Erwarten wir, die wir möglicherweise noch Jorge Amado gelesen haben, sozialen (wenn nicht gar sozialistischen) Realismus, dazu das Magische, das wir seit den 1980er Jahren mit Lateinamerika verbinden, so überrascht uns die junge Prosa Brasiliens mit einer Sprache, die sich von derlei Vorbildern weitgehend emanzipiert hat. Statt magischem Realismus bedient sich etwa João Paulo Cuenca der fantastischen Ästhetik asiatischer Comics, um eine Liebesgeschichte zu erzählen, die wiederum eine Abrechnung mit (nicht nur) brasilianischer Oberflächlichkeit ist: »Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall« (A1-Verlag). Auch die wohl wichtigste junge Schriftstellerin Brasiliens, die in Chile geborene Carola Saavedra (»Landschaft mit Dromedar«, C. H. Beck) entscheidet sich bewusst für »brasilianische Literatur, die nicht zwingend in Brasilien spielen muss«.

Doch auch das ist kein Dogma. Paulo Scott etwa legt mit »Unwirkliche Bewohner« (Wagenbach) den Finger in zahlreiche Wunden Brasiliens, im Zentrum das Elend der indigenen Restbevölkerung - ein weiteres Tabuthema im anhaltenden Größenwahn. Ähnlich Luiz Ruffato, dessen fünfbändige Saga »Vorläufige Hölle« (zwei Bände erschienen bereits bei Assoziation A) von den sonst Namenlosen im Heer der Proletarier handelt, die Brasilien (die Welt?) errichteten. Sozialistischer Realismus sei das aber nicht, betont der Autor, sondern kapitalistischer. Nicht um Überwindung des Systems gehe es seinen Protagonisten, sondern erst einmal um Teilhabe - wenigstens.

Mehr als 50 brasilianische Romane wurden im vergangenen Jahr aus Anlass des Ehrengastauftritts auf der Frankfurter Buchmesse ins Deutsche übersetzt. Genug, um sich ein differenziertes literarisches Bild machen zu können von einem Land, das in zwei Halbzeiten ohnehin nicht erklärt ist. Denjenigen, die dennoch den literarischen Fußballbezug vermissen, sei noch gesagt: Das gelb-grün-blaue Gewand der brasilianischen Nationalmannschaft entwarf 1950 ein - wenn auch vergessener, aber immerhin - Schriftsteller.

Flávio Moreira da Costa (Hg.): Anpfiff aus Brasilien. Elf auf dem Platz. TFM-Verlag. 160 S., 12,80 €.

Joao Paulo Cuenca: Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall. A1-Verlag. 144 S., 16,90 €.

Paulo Scott: Unwirkliche Bewohner. Wagenbach. 256 S., 19,90 €.

Fernando Molica: Schwarz, meine Liebe. Kriminalroman. Edition diá. E-Book, 185 S., 7,99 €.

Luiz Ruffato (Hg.): Der schwarze Sohn Gottes. 16 Fußballgeschichten aus Brasilien. Assoziation A. 184 S., 16 €.

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