Ein Berliner Gericht weist die Bundeswehr in die Schranken und verteidigt das Versammlungsrecht gegen seine Einschränkung bei Rekrutengelöbnissen. Trotzdem gibt es dieses Jahr wohl keine Demonstration von Gelöbnis-Gegnern in Berlin.
Die Entscheidung dürfte nicht nur für Berlin von Bedeutung sein: Will die Bundeswehr für ihre Gelöbnisse öffentlichen Raum nutzen, darf sie sich nicht auf das Straßenrecht stützen, um sich Proteste vom Leib zu halten. Ein diesbezügliches Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig, das Land Berlin als formal beklagte Partei verzichtete auf die Berufung. Gegen die in Berlin seit 1999 übliche Praxis, der Bundeswehr Sondernutzungsrechte für Straßenland einzuräumen, hatte die Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär erfolgreich geklagt. Sie trägt seit Jahren maßgeblich die so genannten Gelöbnix-Proteste in der Hauptstadt. Bundesweit wurden 2005 über 150 Gelöbnisse außerhalb von Kasernen durchgeführt.
Die Antimilitaristen begrüßten das Urteil als Sieg für das Versammlungsrecht und »Ohrfeige für die Bundeswehr«. Öffentlich zugänglich wird der Gelöbnisplatz am Sitz des Verteidigungsministeriums in Berlin trotzdem nicht. Direkt auf dem Gelände wird die Bundeswehr auch bei der nächsten Zeremonie am 20. Juli das Hausrecht ausüben, Feldjäger kontrollieren den Eingangsbereich. Außerhalb wird das Areal wie üblich weiträumig abgesperrt, nur dass nun die Polizei wieder allein die Sicherung übernimmt.
Für Ralf Siemens, Sprecher der Kampagne gegen Wehrpflicht, hat das Urteil ohnehin eine andere Bedeutung. Es sei ihnen nicht darum gegangen, »einen Meter zu gewinnen, sondern eine Grundsatzfrage zu klären«. Diese zielt zunächst auf die demokratische Bindung des Militärs. Das Gericht stellte klar, die Bundeswehr darf sich nicht über ein ziviles Mittel das Hausrecht samt sonderpolizeilicher Kompetenzen verschaffen. Denn dadurch würde der Tätigkeitsbereich der Feldjäger in einen zivilen Bereich ausgedehnt, der eigentlich der Landespolizei obliegt. Es zieht damit die verfassungsmäßige Trennlinie zwischen bundes- und landespolizeilichen Befugnissen nach.
Der zweite Aspekt des Urteils verteidigt die Versammlungsfreiheit gegenüber staatlichen Ansprüchen. Es ginge nicht an, dass staatliche Einrichtungen auf diesem Wege ein Grundrecht aushebeln, argumentierten die Richter. Die Bundeswehr wie auch andere Institutionen müssen Kritik ertragen.
Aber was nützt das Urteil, wenn niemand mehr protestiert? Seit Jahren sinkt die Beteiligung an den Gelöbnix-Demonstrationen in der Stadt. Die Kundgebungen gegen das Militärspektakel sind auf eine überschaubare Anzahl bekannter Gesichter geschrumpft. Erstmals seit 1996 wird dieses Jahr keine Demonstration stattfinden. Die Kampagne gegen Wehrpflicht hat vor einigen Tagen die Anmeldung zurückgezogen. Die Organisation teilt den Eindruck, dass sich die Proteste totgelaufen haben. »Sie drohten zum Ritual zu werden, das kaum noch Inhalte transportiert«, sagte Ralf Siemens dem ND. Die Unterbrechung schafft seiner Meinung nach Raum für neue Widerstandsformen.
Zumal mit der gerichtlichen Klarstellung die Chancen, sich vor Ort Gehör zu verschaffen, wieder steigen könnten. Polizeieinsätze müssen sich deutlich stärker am Maßstab der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Während die Auflagen für die Demonstrationen in den letzten Jahren kaum verhandelbar waren, sieht die Kampagne nun wieder eine Grundlage, juristisch gegen unverhältnismäßige Beschränkungen vorzugehen.
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