Nähen nutzt auch

Abschaffung der Schreibschrift

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Meine Großmutter war keine gebildete Frau. Die Schule besuchte sie nur bis zur siebten Klasse, aber auch das nicht richtig, denn kaum, dass sie eine Mistgabel halten konnte, musste sie auf dem elterlichen Hof mitarbeiten. Außerdem hat meine Großmutter viel genäht und sie hatte eine wunderschöne Handschrift. Sie schrieb noch in Sütterlin. Jedes Mal, wenn meine Mutter einen Brief von ihrer Mutter bekam, versuchte ich als Kind, die Zeichen zu enträtseln, die da fein säuberlich zu Papier gebracht worden waren.

Als meine Großmutter ein Kind war - vor mehr als 100 Jahren - kommunizierten die Schreib- und Lesemächtigen über Briefe miteinander. Man musste leserlich schreiben, um sich ausreichend gut mitteilen zu können. Diese Zeilen sind mit einer PC-Tastatur getippt. Die Buchstaben werden durch einen Algorithmus generiert: Mittlerweile kann ich auf diese Art nicht nur leserlicher schreiben, ich bin sogar schneller, als ich es handschriftlich je wäre - der Backspace-Taste sei Dank. Ich habe die lateinische Ausgangsschrift zwar in der Schule noch gelernt, als umprogrammierter Linkshänder aber nur mühsam und mit dem entsprechend schlechten Ergebnis.

In den letzten Wochen ist - wieder einmal - ein Streit um eine Abschaffung der Schreibschrift in der Grundschule entbrannt. In manchen Bundesländern wird das Schreiben bereits nach der sogenannten vereinfachten Grundschrift gelernt, die im Prinzip aus miteinander verbundenen Druckbuchstaben besteht. Manche halten diese Entwicklung für fatal. Durch die Abschaffung der Schreibschrift werde »leichtfertig eine Kulturtechnik aufs Spiel gesetzt«, kritisierte etwa die ehemalige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, Ute Andresen.

Es gibt gute Gründe, eine solche Reform mit Vorsicht anzugehen. Im Prinzip brauchen wir die Handschrift nicht wirklich, um uns schriftlich mitteilen zu können. Viele junge Menschen können eine SMS schneller tippen, als einen Buchstaben mit der Hand aufs Papier zu kritzeln. Notwendig ist die Schreibschrift - vorläufig - dennoch. Logopäden und Neurobiologen verweisen darauf, dass beim Erlernen der Schreibschrift beide Gehirnhälften sich miteinander vernetzen, wohingegen die Druckschrift nur eine Gehirnhälfte beanspruche. Unsere linke und rechte Gehirnhälfte lassen sich aber auch auf andere Weise gut miteinander vernetzen: z.B. durchs Nähen und Stricken. Manche Wissenschaftler gehen sogar so weit, dass sie auch Computerspielen diesen Nutzen zuschreiben.

Vor vielen hunderttausend Jahren entzündende ein Mensch mit einfachen Hilfsmitteln (Feuerstein, Feuerbohrer) erstmals selbsttätig ein Feuer. Wir wissen nicht, was unsere Vorfahren unzählige Generationen später dachten, als durch die Verfeinerung der Technik das schnelle Drehen eines kleinen Holzsteckens oder das Aneinanderschlagen von Steinen nicht mehr notwendig war, um einen Funken zu entzünden, der trockenes Gras zu brennen brachte. Die Erfindung des Streichholzes vor rund 1500 Jahren war definitiv ein Fortschritt.

Vermutlich gab es aber auch damals Bedenken gegen die Veränderungen beim Entfachen eines Feuers. Kulturpessimisten werden eingewandt haben, dass hierdurch leichtfertig eine Kulturtechnik aufs Spiel gesetzt werde.

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