Partizipation von oben nach unten

Edgardo Lander über die Logik des Erdölstaates in Venezuela und ihre Folgen

  • Lesedauer: 4 Min.
Edgardo Lander hat in Harvard Soziologie studiert und arbeitet als Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Lateinamerika. Mit Lander sprach für »nd« Tobias Lambert.

nd: Die andauernden Straßenproteste in Venezuela sind abgeklungen, aber der politische Dialog in Venezuela zwischen der Regierung und dem moderaten Teil der Opposition liegt vorerst auf Eis. Haben diese Gespräche überhaupt noch Aussichten auf Erfolg?
Lander: Das Problem ist, dass beide Verhandlungspartner unter enormem Druck aus den eigenen Reihen stehen. Die radikalen Sektoren der Opposition versuchen, den Dialog zu sabotieren. Die Regierung hingegen hat keinen finanziellen Spielraum mehr, um politische Initiativen zu ergreifen. Präsident Nicolás Maduro, der gerade auch als Parteivorsitzender zum Nachfolger von Hugo Chávez gewählt wurde, mangelt es im Gegensatz zu jenem an Charisma, um den Chavismus insgesamt von diesem Dialog zu überzeugen. Viele sagen, warum verhandeln sie mit der Opposition und nicht mit der Bevölkerung? Am Tisch saßen also zwei Verhandlungspartner, denen auf die eine oder andere Weise die Arme gebunden sind.

Der Erdölpreis ist momentan recht stabil, wieso ist der finanzielle Spielraum der Regierung so eng geworden?
Der venezolanische Staat ist überdehnt, was seine finanziellen Verpflichtungen angeht. Die sozialpolitischen Maßnahmen und die Verstaatlichungen werden stetig ausgeweitet und führen zu neuen Forderungen. Gleichzeitig braucht der Staat immense Summen, um in den Erdölsektor zu investieren. Neuverschuldung ist nur zu sehr hohen Zinsen möglich. Das heißt nicht, dass Venezuela kein Erdöl mehr fördern kann oder die Wirtschaft zusammenbricht. Aber die wichtigste und schwierigste Herausforderung für Venezuela besteht darin, den Fallstricken des Erdölmodells zu entkommen, das seit hundert Jahren in Venezuela vorherrscht.

Aber durch die Umverteilung der Erdöleinnahmen hat sich die Situation für die Mehrheit der Bevölkerung seit 1998 doch deutlich verbessert ...
Ja, die Erdöleinnahmen konnten von einer Minderheit zur breiten Masse umgelenkt werden, die Sozialpolitiken ausgebaut, und die Ungleichheit verringert werden. Doch alle Versuche, in den vergangenen Jahren Logiken jenseits des Erdölmodells zu stärken, sind gescheitert.

Was meinen Sie konkret?
Zum Beispiel haben die Verstaatlichungen den Staat nicht gestärkt, sondern geschwächt. Denn ein großer Teil dieser verstaatlichten Unternehmen überlebt nur aufgrund von Subventionen. Hier gibt es also eine Tendenz, Sozialismus mit Etatismus gleichzusetzen. In Venezuela gleitet das manchmal ins Karikaturenhafte ab, etwa wenn vor einem frisch verstaatlichten Unternehmen am folgenden Tag ein großes Banner mit dem Slogan »Sozialistisches Unternehmen« prangt. Und wenn zwei Monate später nichts mehr produziert wird, bleibt das Banner einfach hängen.

Aber der bolivarianische Prozess in Venezuela lässt sich doch nicht auf Verstaatlichungen reduzieren. Wie steht es um den Ausbau politischer und ökonomischer Partizipation?
Es hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Versuche gegeben, postkapitalistische Strukturen zu schaffen, sei es durch Kooperativen oder kommunale Räte, wo es um eine soziale Ökonomie, eine Kontrolle von unten geht. Das Problem ist, dass jedes große Ziel, das sich der bolivarianische Transformationsprozess gesetzt hat, durch die Logik des Erdölstaates konterkariert wird. Solange die lokale, basisdemokratische Ebene von den Erdöleinnahmen abhängt, wird Politik von oben nach unten gemacht. Die überbewertete Währung verteuert die heimische Produktion und es ist häufig billiger, Waren zu importieren. Vor ein paar Jahren wurden 280 000 Kooperativen gegründet, von denen heute keine Rede mehr ist. Obwohl der Staat immense Summen in die soziale Ökonomie steckt, kann diese sich nicht entfalten.

Was müsste die Regierung tun, um der Erdöllogik zu entkommen?
Das Problem ist, dass die Regierung bereits vor Jahren hätte handeln müssen. Und zwar aus einer Position der Stärke heraus. Nun müsste sie unangenehme Entscheidungen in einem Moment treffen, in dem die politische Konfrontation sehr hoch und die wirtschaftliche Lage sehr prekär ist. Das Benzin kostet in Kolumbien zum Beispiel 78 Mal so viel wie in Venezuela. Wenn eine Person fünf Mal pro Woche 100 Meter nach Kolumbien reinfährt und ihre Tankfüllung dort weiterverkauft, verdient sie mehr als die große Mehrheit der Venezolaner. Diese Verzerrungen haben ihre Ursachen in den staatlichen Subventionen für Benzin und dem staatlich festgesetzten Wechselkurs. Eine Beendigung der Subventionen und eine drastische Währungsabwertung hätten aber einen dramatischen Anpassungsprozess zur Folge. Daher sind solche Maßnahmen nur in Momenten möglich, in denen die politische Unterstützung und Geld für Kompensationszahlungen da sind.

In anderen Ländern der Region laufen Debatten über das Entwicklungsmodell und Extraktivismus. In Venezuela scheint diese Debatte kaum eine Rolle zu spielen ...
Es gibt ein Beispiel, das gut verdeutlicht, dass diese politische Debatte hier tatsächlich nicht stattfindet: Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 sind Hugo Chávez und Henrique Capriles mit zwei völlig unterschiedlichen Programmen gegeneinander angetreten. Es gab nur eine einzige Übereinstimmung. In beiden Programmen war das Ziel enthalten, die Erdölproduktion von drei auf sechs Millionen Barrel Erdöl pro Tag zu verdoppeln. Wir haben in Venezuela einen großen nationalen Erdölkonsens. Mit dieser Logik zu brechen ist notwendig, aber äußerst schwierig. Es würde bedeuten, dass wir unseren Lebensstil ändern müssten, der extrem und völlig übertrieben auf Konsum ausgerichtet ist.

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