Das Ende der Rundumbetreuung

Nordrhein-Westfalens Pilotprojekt zu weniger Polizei bei Fußballspielen kann Vertrauen bei den Fans fördern

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Polizei in NRW wird zu oft beim Fußball eingesetzt. »Das kann ich dem Steuerzahler nicht mehr vermitteln«, konstatiert Innenminister Jäger und startet in die neue Saison - mit weniger Polizei.

Die Klagen von überlasteten Polizisten sind schier unendlich: Ständige Personalkürzungen, Rückzug aus der Fläche, »Bagatellen« wie Verkehrsunfälle können nicht mehr bearbeitet werden und obendrein schwindet auch noch der Respekt vor den Ordnungshüter. Umso erstaunlicher, was manche Länderpolizeien an Personal aufbieten können, wenn ein Fußballspiel in den oberen Ligen ansteht: Da wurden in Cottbus alle zwei Wochen eine Innenstadtmagistrale blockiert, die ordnungsgemäße Leere mit einem Hubschrauber überwacht und jeder einzelne Gästefan persönlich vom Bahnhof zum Stadion eskortiert. Beim 1. FC Union Berlin bewachten schon einmal 1000 Polizisten ein Heimspiel gegen den FC St. Pauli, deren Fanszenen eher die Lust am gemeinsamen Bier denn am Raufhandel verbindet. Die Begründungen für das Aufgebot muteten denn auch abenteuerlich an: In zwei Wochen kommt Dynamo Dresden und da müssen wir schon einmal üben. Selbst gutwillige Besucher sahen darin eine Mischung aus Steuergeldverbrennung und Schikane.

Auch wenn die notorisch angespannte Haushaltslage in Nordrhein-Westfalen (NRW) Grund für den Modellversuch des Innenministers Ralf Jäger (SPD) sein dürfte, vielleicht dachte er auch an solche Szenen, als er pünktlich zum Start von Liga zwei und drei seinen Modellversuch ankündigte, an den ersten vier Spieltagen die Polizeipräsenz zu reduzieren: »Wir wollen den Kräfteeinsatz der Bereitschaftspolizei lageangepasst runterfahren.« In NRW stehen in der Saison 2014/15 ganze 231 Spiele in den ersten drei Ligen auf dem Programm. »Bereits jetzt verwendet die Bereitschaftspolizei ein Drittel ihrer Einsatzzeit nur für die Sicherheit bei Fußballspielen. Machten wir weiter wie bisher, würde sich das noch einmal deutlich erhöhen. Das kann ich dem Steuerzahler nicht mehr vermitteln.«

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Alles nur ein Missverständnis. Dass Ostdeutsche generell gewaltbereiter sein sollen, will Wolfgang Schwenke nun so doch nicht mehr gesagt haben. Die ohnehin schon gereizte Stimmung vor der Drittligapartie zwischen Holstein Kiel und Hansa Rostock am Mittwoch hat der Kieler Geschäftsführer damit sicher nicht entschärft.

Abgesehen von den Tickets für den Gästeblock, die der F.C. Hansa direkt an seine Fans verkauft, konnten alle Karten für das Spiel nur im Fanshop von Holstein Kiel erworben werden - gegen Vorlage des Personalausweises. Und dabei sind dann Sätze wie dieser gefallen: »Wenn Sie im Westen geboren wären, hätte ich Ihnen Karten verkauft.« So wurden keine Rostocker nach Hause geschickt, sondern Holstein-Fans, die schon lange in Kiel oder Schleswig-Holstein arbeiten und leben, aber eben in Sachsen oder Thüringen geboren wurden.

Schwenke wollte nicht, dass sich Ereignisse wie im Dezember wiederholen. Da der Ticketverkauf beim letzten Ostseederby übers Internet gelaufen war, hätten Rostocker auch außerhalb des Gästeblocks Platz gefunden, eine Imbissbude zerlegt und einen Schaden von 15 000 Euro hinterlassen, sagt Schwenke und betont, er müsse »für eine sichere Veranstaltung sorgen«. Das müssen andere auch - denen war er nicht hilfreich.

Das Risikospiel, zu 1500 bis 2000 Rostocker Fans erwartet werden, wird von mehreren Polizeihundertschaften aus vier Bundesländern gesichert. Zwar gaben auf nd-Nachfrage die verantwortliche Polizeidirektion Kiel und auch der F.C. Hansa an, bisher keine Anzeichen einer Eskalation am Spieltag zu haben. Aber Vorurteile haben noch nie zur Deeskalation beigetragen. Und so stupide beleidigende erst recht nicht.

Und Schwenke? Ist ein Überzeugungstäter! Im Spiel gegen den nächsten Ostverein, Dynamo Dresden, will er wieder alles genauso machen. In jedem Dementi steckt eben ein Funken Wahrheit.
Alexander Ludewig

 

Fußballfans sind auch Steuerzahler und Bürger, die sich an Bahnhöfen und auf Straßen oftmals einer mit Helmen, Schlagstöcken und Pfefferspray martialisch aufgerüsteten Staatsmacht gegenübersehen, deren Beamte scheinbar willkürlich und viel zu oft notorisch auskunftsunwillig Gehorsam verlangen und Bürgerrechte außer Kraft setzen. Damit drehen sie selbst an der Eskalationsschraube, wenn beispielsweise Familienvätern samt Kindern wegen der Kleiderwahl der Gang zur Toilette verweigert wird. Die Polizei sieht sich wiederum einer Menge gegenüber, die sie nicht mehr als neutrale Instanz, sondern als Gegner betrachtet.

»Die Gleichung, dass mehr Polizei ein höheres Maß an Sicherheit ergibt, geht nicht auf«, sagt der Fanforscher Gunther A. Pilz: »Im Gegenteil, das ist eine fatale Botschaft. Ein massives Polizeiaufkommen führt in der Fanszene zu Solidarisierungseffekten gegen diese Machtdemonstration und in der Regel zu mehr Konfrontation.«

Dabei schließt der Modellversuch ausdrücklich sogenannte Risikospiele aus, er betrifft nur solche Begegnungen, »die in den letzten drei Jahren ohne Krawalle geblieben sind.« Dies betont Jäger ganz am Anfang seiner Erklärung, wohl wissend, dass trotzdem die unvermeidliche »Fußball-Sommerlochdebatte« wieder hochkocht, die Ende Juli durch die Entscheidung des Bremer Senats ausgelöst wurde, in Zukunft die Deutsche Fußball Liga (DFL) an den entstehenden Kosten für Polizeieinsätze bei Fußballspielen zu beteiligen.

Und so warnte dann auch der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses Wolfgang Bosbach (CDU) prompt in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe: »Wenn Innenminister Jäger an seinen Plänen festhält, übernimmt er damit zumindest die politische Verantwortung, wenn wegen mangelnder Polizeipräsenz an Gefahrenschwerpunkten die Sicherheit der Allgemeinheit gefährdet wird.« Jägers Versicherung, dass sich (selbstverständlich) »am konsequenten Vorgehen gegen Gewalttäter« nichts ändere, ignorierte Bosbach zumindest. Erich Rettinghaus, NRW-Landesvorsitzender der Polizeigewerkschaft DPolG nannte Jägers Vorstoß dagegen »mutig und zukunftsweisend, denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Wir lassen keinen Zweifel daran, dass die Polizei einschreitet, wenn Straftaten passieren, aber die kräftezehrende Rundumbetreuung wird es nicht mehr geben.« Jene Rundumbetreuung sehen viele Bürger ebenfalls als überflüssig an.

Jäger betont dabei, dass er auf die Kooperation mit und die Selbstregulierung unter den Fans setzt: »Gespräche mit Fans haben mir gezeigt, dass sie bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen. Das können sie jetzt unter Beweis stellen.« Der Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte in Deutschland (KOS), Michael Gabriel sieht den Vorstoß sehr positiv: »Eine zurückhaltende, auf Kommunikation ausgerichtete Polizeistrategie ist genau der richtige Weg«, so Gabriel. Vielleicht stärkt es das Vertrauen zwischen der Polizei und der übergroßen Mehrheit der friedlichen Fans, wenn man sich erst einmal nicht mehr so oft sieht.

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