Ein Zug und drei Herren

Das Mannheimer Bahnunglück und die gefährlichen Folgen der Liberalisierung

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Lokführer des Mannheimer Unglückszuges, gegen den die Behörden nun ermitteln, war bei einer Personal-Agentur beschäftigt. Warum hat er gleich mehrere Haltesignale ignoriert? Übermüdung?

Knapp eine Woche nach dem Zusammenstoß eines Eurocity-Zuges (EC) der Deutschen Bahn mit einem Güterzug der niederländischen Privatbahn ERS in Mannheim sind die Aufräumarbeiten weitgehend abgeschlossen. »Fern-, Regional- und S-Bahn-Züge fahren seit heute früh wieder wie gewohnt den Mannheimer Hauptbahnhof an«, erklärte ein Bahnsprecher am Donnerstag auf nd-Anfrage. »Damit sind die bis Mittwoch geltenden Umleitungen zweier Fernverkehrs- und einer Regionallinie aufgehoben.« Bei dem Unfall nahe dem Mannheimer Hauptbahnhof waren in der vergangenen Woche 35 Menschen verletzt worden. Zwei Waggons mit 110 Menschen kippten um.

Unterdessen haben die Ermittlungen zu einem ersten Zwischenergebnis geführt. So sei der Unfall-Güterzug an einem Haltesignal nicht rechtzeitig zum Stehen gekommen und zunächst durch die elektronische Fahrtüberwachung automatisch gebremst worden, teilten Staatsanwaltschaft und Bundespolizei in einer Presseerklärung mit. Der Lokführer habe die Bremsung wieder aufgehoben. Dann sei der Güterzug an zwei weiteren Lichtsignalen, die auf »Halt« standen, vorbeigefahren und um 20.48 Uhr mit der Lok direkt in die rechte Flanke des Eurocity geprallt.

Dabei seien zwei Personenwagen umgekippt und die Güterzuglok sowie zwei Güterwagen entgleist, erklärten die Behörden. Zwei herunter stürzende Container hätten das Nachbargleis blockiert. Eine herannahende S-Bahn sei durch Notbremsung angehalten worden. Fast alle Fahrgäste, die verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert wurden, seien inzwischen wieder entlassen worden. Gegen den Lokführer des Güterzugs werde nun wegen Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung sowie Gefährdung des Bahnverkehrs ermittelt, so die Presseerklärung. »Warum der Triebfahrzeugführer die automatisch eingeleitete Bremsung aufgehoben hat und weitere Halt-Signale überfuhr, muss in den laufenden Ermittlungen geklärt werden.« Der 60-jährige Lokführer sei bei einer Personal-Agentur beschäftigt.

Der Mannheimer Unfall macht erneut klar, wie weit Privatisierung und Liberalisierung im bundesdeutschen Schienenverkehr fortgeschritten sind - Zustände wie in Großbritannien, dem Mutterland der europäischen Bahnprivatisierung, sind längst Alltag. So sind am Unfall-Güterzug mindestens drei Firmen beteiligt: die niederländische ERS, die Pfälzer Leiharbeitsfirma Railway Solution Direct und die Österreichischen Bundesbahnen. Letztere stellten die Lokomotive. Bei der Frankfurter ERS-Niederlassung hüllt man sich in Schweigen. »Wir sind zu keiner Stellungnahme befugt«, erklärte ein Mitarbeiter auf Anfrage. Für kritische Eisenbahner kommt der Mannheimer Unfall nicht überraschend. Dass übermüdete Lokführer von Privatbahnen ein Sicherheitsrisiko darstellen, belegte erst kürzlich eine Reportage des WDR-Magazins markt. Wie lange der betroffene Triebfahrzeugführer am 1. August tatsächlich auf der Lok saß, dürfte bald feststehen.

Ähnliche Trends bestätigt auf nd-Anfrage auch ein Hamburger Eisenbahner. So habe ihm ein Azubi bei einer ostdeutschen Privatbahn anvertraut, nach drei Monaten Ausbildungszeit einen Güterzug auf der Strecke zwei Stunden lang allein gefahren zu haben, während der übermüdete Lokführer neben ihm geschlafen habe. »Im Konkurrenzkampf kann kein LKW-Fahrer noch vorschriftsmäßig arbeiten. Auf den Schienen drohen die selben Zustände wie heute schon auf der Straße«, warnt der Eisenbahner.

»Unsere Lokführer müssen vor schwarzen Schafen geschützt werden. 30 Stunden auf der Lok, fahren ohne Orts-, Strecken- und Sprachkenntnis sind mittlerweile bittere Realität«, heißt es in einem Aushang der Bahngewerkschaft EVG. Darin werden die verpflichtende Einführung einer digitalen Fahrerkarte sowie europaweit geltende Mindeststandards für Ausbildung und Prüfung sowie eine effektive Kontrolle gefordert.

»Die Umsetzung wird leider von der Politik immer wieder blockiert«, stellt die EVG fest.

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