Schicksalswahl: Demokratie oder Despotie

Evrim Sommer über die Präsidentenwahlen in der Türkei

  • Lesedauer: 4 Min.

Erdogans islamisch-konservative Partei (AKP) ist seit 11 Jahren ununterbrochen an der Macht. Im Jahre 2002 betrat er als mutiger Reformer die politische Bühne der Türkei. Heute kann man ihn als Despoten bezeichnen. Seine anfänglichen Sympathien nutzte er geschickt aus und verbesserte das Wahlergebnis seiner Partei von Wahl zu Wahl mehr. Mittlerweile steht ein Teil der türkischen Bevölkerung ihm kritisch gegenüber - insbesondere nach der gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Bewegung in Istanbul 2013. Die Gewalt zerstörte das Vertrauen der Menschen.

Die Bilanz seiner Regierung ist sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch verheerend. Erdogan hat kontinuierlich und ohne Rücksicht auf Verluste einen eigenen Machtapparat aufgebaut, der seinen diktatorischen Stil stützt. Um die Vision der Alleinherrschaft zu realisieren, entmachtete er die sogenannte ‘Kemalistische Elite‘, das Militär.

Darüber hinaus brach er mit der Gülen-Bewegung, die ihm anfänglich Wählerstimmen aus dem religiös-konservativen Milieu verschaffte. Demokratische Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit und andere werden von ihm immer mehr negiert. Den Gezi-Aufstand hat er nicht nur verbal, sondern auch mit massiver Gewalt und harten Repression niedergeknüppelt. Das Sperren von Twitter, Facebook und die massenhafte Inhaftierung von Oppositionellen, kritischen Journalisten und Stundenten/innen gehen auf seinem Konto.

Die Kurdenfrage nutzte er geschickt für seine Ziele aus. Er versprach nahezu vor jeder Wahl den Kurden die friedliche Lösung der Kurdenfrage. Dies tat er nun auch. Einen Monat vor der Präsidentenwahl wurde in Ankara ein Gesetzespacket verabschiedet, wonach PKK-Mitglieder die Möglichkeit bekommen sollten wieder Teil der türkischen Gesellschaft zu werden. Das Gesetz soll angeblich die rechtliche Basis für einen Friedensprozess im Osten der Türkei sein, in dem seit Jahrzehnten ein Guerillakrieg tobt. Erdogan plant, sich damit bei der Präsidentenwahl am 10. August die Unterstützung der kurdischen Minderheit, deren Stimmen er braucht, zu sichern. Die Kurden wollen sich jedoch nicht instrumentalisieren lassen.

Deshalb schicken sie Selahattin Demirtas als eigenen Kandidaten ins Rennen. Bislang gab es seitens der Regierung nur Versprechungen. Eine grundgesetzliche Anerkennung der Rechte der Kurden, das Recht zur Bildung von Vereinigungen und die Aufhebung der Anti-Terror-Gesetze sind für einen Friedensprozess unabdinglich. Das kurdische Volk muss das Recht bekommen, sich auf regionaler Ebene selbst verwalten zu können. Bislang hat die Regierung diesbezüglich nichts unternommen. Stattdessen sind Zehntausende unlängst aufgrund der Anti-Terror-Gesetze verhaftet worden, auch Abgeordnete. Hinzu kommt, dass Erdoan auf der Grundlage einer Verfassung regiert, die 1982 von der Militärdiktatur auf dem Wege gebracht wurde. Im Zuge einer Demokratisierung wäre erste Pflicht, eine demokratische Verfassung zu beschließen.

Nicht weniger dramatisch stellt sich die Außenpolitik dar, in der der türkische Ministerpräsident die israelische Gazaoffensive gerade erst als »barbarischer als Hitlers Vorgehen« bezeichnet hat. Antisemitische Äußerungen artikuliert er des Öfteren. Fast vergessen scheint der Plan der Aufnahme der Türkei in die EU. Stattdessen wird Erdogan in lauter Größenwahn nicht müde, seinen hegemonialen Machtanspruch im Nahen Osten zu bekräftigen. Doch genau das ist überaus gefährlich. Die Türkei ist nämlich nach dem Scheitern des arabischen Frühlings von einem »Feuerring« umgeben. Auf der einen Seite fallen Syrien und Irak durch den Vormarsch der islamistischen ISIS ins Chaos. Auf der anderen Seite verschärft sich der Ukraine-Konflikt. Doch diese Gefahren spielen für den von seiner Macht berauschten Erdogan keine Rolle. Und das ist die eigentliche Gefahr.

Nun soll das autoritäre Präsidialsystem das parlamentarische System ablösen. Erdogan verspricht schon jetzt im Fall seiner Wahl zum zukünftigen Präsidenten, dass er alle seine Kompetenzen voll und ganz ausschöpfen wird. Konkret bedeutete das, dass er das parlamentarische System weiter schwächt und über die Hintertür ein ‘Ein-Mann – Präsidialsystem‘ installieren. Die Gefahr der Implementierung eines diktatorischen Machtapparates lässt sich nicht leugnen.

Es gibt zu Recht die Befürchtung, dass bei einem Wahlsieg im ersten Wahlgang ihn nichts mehr aufhalten wird und Erdogan zügig seine Vision von einer türkischen Großmacht unter seiner Führung realisieren will. Kaum jemand glaubt, dass er die Wahl verlieren wird. Die große Hoffnung ist jedoch, dass er Stimmen an den pro-kurdischen Kandidaten Selahattin Demirtas verliert und nicht im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wird. Erdogan würde damit einen Denkzettel bekommen und müsste einen zweiten Wahlgang antreten. Ob das passiert und welche Auswirkungen dies für »seine« Lösung der Kurdenfragen haben wird, lässt sich nicht vorhersagen. Am 10. August wird ausgezählt - danach wissen wir mehr.

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