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Hochstapler Gustav Bülow

Wolf Kampmann führt uns in das Labyrinth eines Lügenbolds - und plaudernd durch das 20. Jahrhundert

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Vorsicht vor diesem Münchhausen: Was hat der gleichnamige Tausendsassa in Wolf Kampmanns »Gustav« nicht alles in seinem Dasein erlebt? Hitlerjugend, Wehrmachtseinsatz im Osten, später als DDR-Dissident die heikle Flucht in den Westen. Dazwischen Schwarzmarktschiebereien, Auftritte bei einer Wanderbühne und Anstellungen bei Theaterhäusern in Dresden und Düsseldorf. Aber all dies wäre noch zu langweilig, wenn nicht überall auch das Abenteuer lauern würde: Aus der blamablen, väterlichen Rettung vor dem Bomben- und Feuerhagel an der Front spinnt der Lügenbold eine dramatische Guerilla-Story, die vom Überlebenskampf in der Wildnis über Lagerinternierung bis zum nächtlichen Ausbruch reicht.

So weit, so gut - gäbe es da nicht die allzu biedere Wahrheit dahinter, welche der Autor dieser munteren Genremixtur aus Schelmenroman, Psychostudie und Abenteuerprosa stets in Kontrast zu Gustavs Käptn-Blaubär-Fabulierungen setzt. »Ein bisschen Lack hier, ein paar Pinselstriche dort, auch Leim hat noch nie geschadet«, und nur allzubald geht man Gustav, dem »Unwiderstehlichen«, auf den Leim. Das Spannende ist, wie man diesem Mann anfangs noch durchaus mit Wohlwollen zugeneigt ist und sukzessive seine Blauäugigkeit aufgibt.


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* Wolf Kampmann: Gustav. Roman. Osburg Verlag. 348 S., geb., 19,99 €.


Im Wechsel zwischen innerem Monolog, auktorialen und glücklicherweise objektiven Passagen werden wir eines gewieften Betrügers und Verstellungskünstlers gewahr, zu dessen Unzuverlässigkeit sich überdies auch Antipathie gesellt. Gustav Bülow ist nicht nur ein Hochstapler, von dem Thomas Manns Felix Krull oder Nabokovs verlogener Nymphenlüstling Humbert Humbert noch manches lernen könnten. Er ist zudem Antisemit, ehemaliger SS-Gefolgsmann und bis zum Ende des Jahrhunderts ein unverbesserlicher Überzeugungsfaschist.

Bedient sich die nationalsozialistische Propaganda allen voran romantischer Vorstellung von Sehnsucht, nationaler Einheit und Naturliebe, lässt es sich der 1962 in Zwickau geborene Schriftsteller und Musikjournalist Kampmann nicht nehmen, jene ideologische Pervertierung als Karikatur auszustellen. Von Anfang an inszeniert er seinen Protagonisten als Naturburschen und Eichendorffschen Träumer. Wo die Wirklichkeit hemmt, flüchtet er sich in innere Spielräume. So erfahren wir von dem Geschichtenerzähler, dass er »viele Leben gelebt« haben soll. Diesen Reichtum gilt es zu teilen und dafür Bewunderung zu ernten. Nicht nur auf der Bühne weiß er seinen Narzissmus auszuleben, auch im hohen Alter wird er nicht müde, seine Zuhörer auf Dia-Shows mit gefälschten Panoramaaufnahmen aus aller Welt hinters Licht zu führen.

Plaudernd, aber keineswegs seicht, führt uns der Roman durch das 20. Jahrhundert, ohne an Ironie und Witz zu sparen. Er zeigt uns nicht nur schlitzohrig, welche Verführungskraft Literatur zu entfalten vermag, sondern zugleich dann doch etwas ungemein Menschliches: die Erfindung der eigenen Biografie, den Versuch, in alle Vergeblichkeit immer noch einen Sinn hineinprojizieren zu wollen, ja, der Vergänglichkeit ein Moment abzugewinnen, das bleibt. »Über nahezu siebzig Jahre hatte Gustav ein Konto angelegt, dessen einzige Währung der Selbstbetrug war … Die Pforte zwischen Fantasie und Wirklichkeit ist vom Hauch des Todes ins Schloss gedrückt worden.« Sein Entschluss, letztlich doch noch »ein Leben ohne Lügen« zu führen, kommt zu spät, um noch einen Wandel zu bewirken. Seine Märchen mögen daher im Wind der Zeit verwehen. Kampmanns wunderbares Debüt hingegen ist beschwingte Literatur, die man ungern vergisst.

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