Ökonomen kritisieren Kurs der »schwarzen Null«

Raum für jährliche Kreditaufnahme solle genutzt werden / IW-Chef Hüther für 100-Milliarden-Investitionsprogramm / Wagenknecht verlangt »Rücknahme der Kürzungsdiktate«

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Berlin. Der auf eine »schwarze Null« festgelegte Sparkurs der Bundesregierung stößt bei prominenten Ökonomen auf Kritik. Mehrere Volkswirte forderten in der »Rheinischen Post« dazu auf, das Ziel des Haushaltsausgleichs 2015 zugunsten von mehr öffentlichen Investitionen aufzugeben. Zwar müsse die Bundesregierung die Schuldenbremse einhalten, sagte der Chef des unternehmensnahen Instituts der deutschen Wirtschaft IW, Michael Hüther der »Rheinischen Post«. »Das verlangt aber keine schwarze Null, sondern lässt Raum für eine jährliche Nettokreditaufnahme von zehn Milliarden Euro.« Auf diese Weise könne ein Spielraum eröffnet werden, »um den Investitionsstau bei der Infrastruktur schneller aufzulösen«, so Hüther.

Im »Focus« schlug IW-Chef Hüther ein Investitionsprogramm für die Infrastruktur von 100 Milliarden Euro in zehn Jahren vor. Damit könne der drohende Abschwung gebremst werden, sagte der Ökonom und plädierte dafür, diese Aufgaben notfalls auch mit Schulden zu bestreiten. »Der Bund hat die Möglichkeit, auch nach der Schuldenbremse Kredite in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandprodukts aufzunehmen. Die sollte er auch nutzen.« Der Chef des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Clemens Fuest, sagte »die schwarze Null im Haushalt 2015 hat politische Symbolwirkung, ökonomisch hat sie keine große Bedeutung«.

In der der »Neuen Osnabrücker Zeitung« sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben: »Wir sollten die Krise jetzt nicht noch herbeireden. Die Risiken sind groß genug.« Nach Einschätzung des DIHK bestehe derzeit kein Grund, »zu sehr auf Moll zu machen.« Wansleben reagierte damit auf Äußerungen von Christine Lagarde, der Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Allerdings forderte er wie Lagarde die Bundesregierung auf, mehr für Investitionen zu tun. »Es geht beides: Haushalt sanieren und investieren. Denn der Staat nimmt Steuern in Rekordhöhe ein«, sagte der DIHK-Hauptgeschäftsführer.

Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW, Marcel Fratzscher, äußerte sich kritisch zum rigorosen Spardiktat. Im »Spiegel« sagte Fratzscher, »die schwarze Null ist eine riskante Entscheidung. Wenn sich die Konjunktur weiter abschwächt, ist das Ziel nicht haltbar.« Fratzscher sagte der »Rheinischen Post«, er »glaube, die Bundesregierung muss keine Sorge vor einem weiteren Vertrauensverlust haben, wenn sie die schwarze Null aufgäbe. Ganz im Gegenteil, ich halte die schwarze Null sogar für riskant, weil der Staat damit das falsche Signal an die Wirtschaft sendet«. Er forderte die Große Koalition zu Maßnahmen gegen die konjunkturelle Abschwächung auf. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble solle »die Spielräume der Schuldenbremse nutzen, um die öffentlichen Investitionen zu erhöhen.« Nach Fratzschers Auffassung können so allein im nächsten Jahr rund zehn Milliarden Euro in die Infrastruktur investiert werden.

Die Vizevorsitzende der Linksfraktion, Sahra Wagenknecht, sagte, »das beste Konjunkturprogramm für Europa wäre ein Auszug Merkels aus dem Kanzleramt«. Sie kritisierte »die Bankenrettungen zu Lasten der Steuerzahler, die Kürzungspolitik und die deutsche Teilnahme am Wirtschaftskrieg gegen Russland«. Bundesfinanzminister Schäuble verkaufe »die Öffentlichkeit für dumm, wenn er private Investitionen ankurbeln möchte, aber nicht sagt wie er das erreichen will«. Wagenknecht forderte die »Rücknahme der Kürzungsdiktate in Europa sowie in einem festgelegten Rahmen direkte Kredite der EZB an Euro-Staaten, um Investitionen und nicht neue Blasen auf den Finanzmärkten zu finanzieren«. Dadurch und »durch Millionärssteuern ist eine gerechtere Verteilung und damit höhere Massenkaufkraft und Binnennachfrage anzustreben«.

Dagegen wandte sich der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, gegen eine Schuldenfinanzierung von zusätzlichen Investitionen. »Wir brauchen sicherlich mehr Investitionen. Vor einer Verschuldung zur Finanzierung warne ich aber mit Nachdruck, denn es wurden ohnehin schon viel zu viele Lasten auf die Zukunft verschoben«, sagte Sinn der »Rheinischen Post«. Die Bundesrepublik solle »sich dem Gang in den Schuldensumpf nicht anschließen, wie ihn Länder wie Frankreich und Italien vormachen«. Sinn forderte stattdessen verbesserte Abschreibungsbedingungen für private Investoren.

Sinn kritisierte zugleich jüngste Maßnahmen der Bundesregierung. »Statt uns auf schwierigere Zeiten vorzubereiten, verfrühstücken wir jetzt die Reformerfolge der vergangenen Jahre«, zitiert ihn der »Focus«. So würden seiner Meinung nach die Rente mit 63, die Energiewende und der Mindestlohn zu den politischen Entscheidungen zählen, »die die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bremsen«. Der ehemalige Chefökonom der Deutschen Bank, Thomas Mayer, sagte dem »Focus«, die großzügigen Wohltaten der Regierung seien »ganz klar ein Rückschritt« gegenüber der Politik des SPD-Kanzlers Gerhard Schröders. nd/mit Agenturen

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