Bezahlen ohne Geld

Beim Kreuzberger Tauschring kann sich jeder alles leisten

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 3 Min.
Seit 1995 gibt’s in Kreuzberg eine Zweitwährung - den Kreuzer. Den kann man sich für Solidarität und Nachbarschaftshilfe verdienen.

Der Kreuzberger Tauschring existiert seit fast 20 Jahren. Ein Konzept, das sich mittlerweile gegen Internet Dienstleistungsagenturen behaupten muss. Wenn bei Angelika ein Wasserhahn tropft, Ikea-Möbel aufgebaut werden müssen oder das Vorderrad ihres Fahrrades eine Acht hat, dann muss sie nicht ihre knappen finanziellen Ressourcen in Anspruch nehmen, sondern schaltet eine Anzeige im Straßenkreuzer, dem Mitgliedermagazin des Kreuzberger Tauschrings oder geht zu einer TauschRausch-Veranstaltung. Wenn alles gut läuft, kümmert Peter sich wenig später um die Wasserhähne, Lucie hilft beim Aufbauen der Möbel und Christian zieht die Speichen ihres Vorderrades an.

Als 1994 auf dem Dresdner Kongress »Wirtschaft von unten« Harry Turner das britische LEDS-Modell vorstellte, waren die Zuhörer begeistert. LEDS heißt Lokal Exchange & Trading System, rund 400 solcher Tauschringe gab es damals auf der Insel. Eine Idee, die ursprünglich aus Kanada kommt und teilweise auf die Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell zurückzuführen ist. In der Weimarer Republik beispielsweise gründeten Helmut Rödiger und Hans Timm 1929 die Wära-Tauschgesellschaft. Über tausend Mitgliedsfirmen nutzten diese Selbsthilfeaktion in der Wirtschaftskrise, bis sie 1931 durch eine Notverordnung verboten wurde.

Einige Berliner Teilnehmer des Kongresses in Dresden trafen sich wenig später im Mehringhof und gründeten 1995 den Kreuzberger Tauschring. Streit gab es um die Tausch-Währung: Sollte sie in die damalige Deutsche Mark umtauschbar sein oder nicht. Die Aktivisten entschieden sich für ein anderes Modell. Jede Stunde Arbeitszeit ist genau 20 Kreuzer wert - egal ob Computer repariert oder Fenster geputzt werden.

Für Angelika heißt das, dass für Wasserhahn, Fahrrad und Möbel ihre Kreuzer auf der »Kreuzerbank« im Nachbarschaftshaus Urbanstraße von ihrem Konto auf die Konten von Peter, Lucie und Christian verschoben werden. Die drei wiederum können sich dank der Fantasiewährung eine Massage von Kay, eine Schuhreparatur von Marlen oder leckere Grünkernpuffer leisten, die Angelika brät, um ihr Konto wieder mit Kreuzern aufzufüllen. Einige Hundert Kreuzberger können so Dienstleistungen nutzen, die sie sich sonst nicht leisten könnten und bringen ihre eigenen Fähigkeiten ein - mit Erfolg: Nach acht Jahren Existenz wurde bereits der einmillionste Kreuzer vertauscht. Umgerechnet wären das 50 000 Stunden an nachbarschaftlichen Hilfstätigkeiten.

Mehrere Arbeitsgruppen organisieren den Kreuzberger Tauschring. Die AG Redaktion ist für die Zeitung Straßenkreuzer verantwortlich, die AG Büro deckt die Sprechzeiten ab und die AG TauschRausch organisiert einmal monatlich einen Floh- und Trödelmarkt im Nachbarschaftshaus Urbanstraße. Neu gegründet werden musste die AG Mitgliederbetreuung. Sie wurde notwendig, um Hilfestellungen in der Konfliktlösung zu geben. Ebenso werden bei Bedarf Mitglieder unterstützt, die zu viele oder zu wenige Kreuzer auf ihrem Konto haben. Denn es gibt Guthaben- und Schulden-Grenzen. Festgelegt ist eine Spanne von 1000 Kreuzern im Plus bis zu 500 Kreuzern im Minus, in der sich die Mitglieder bewegen dürfen. Einige hatten sie bereits 2006 deutlich überschritten. Die AG Mitgliederbetreuung geht auf die Betroffenen zu und versucht ihnen zu helfen, ihren Saldo wieder in die vertraglich vorgesehenen Grenzen zu bekommen.

Wichtig ist den Tauschring-Aktivisten, sich gegen die geldbasierten Internet-Tauschringe abzugrenzen. »Der Kreuzberger Tauschring ist keine neue Dienstleistungsagentur«, schreiben sie, »bei der man billig Schnäppchen machen kann, sondern er besteht aus Menschen, die den Versuch wagen, die von allen gewünschten humanen Umgangsformen miteinander in die Tat umzusetzen«.

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