Marzahn ist überall

Wie wird Berlin-Neukölln sein Image als »Problembezirk« los? Heinz Buschkowsky und Christian Stahl sind sich uneins

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

Dass der Berliner Bezirk Neukölln seit geraumer Zeit von öffentlichem Interesse ist, hat zwei Gründe. Einer davon ist Heinz Buschkowsky, Bürgermeister des 320 000 Einwohner zählenden Bezirks. Eigentlich ist Neukölln ein beschaulicher Stadtteil: Die Mehrheit seiner Bewohner lebt ein bürgerliches, normales Leben und für jene Gegenden, wo die »Probleme« zu Hause sind, hat sich jahrzehntelang kaum jemand interessiert. Rund um die Sonnenallee und den Hermannplatz in Nord-Neukölln etwa war schon zu Mauerzeiten das öffentliche Straßenbild von Frauen mit Kopftüchern, muslimischen Jugendlichen in Mackerpose und sozialer Tristesse geprägt. Das wurde in der alten Bundesrepublik als Folklore abgetan - bis vor zwei Jahren das erste Buch von Heinz Buschkowsky auf den Markt kam (»Neukölln ist überall«) und damit die Kritik an der angeblichen oder tatsächlichen Integrationsverweigerung von Migranten wochenlang die Feuilletons der Zeitungen und die Talkrunden im Fernsehen bestimmte.

Buschkowskys Buch wurde zum Bestseller, hielt sich im Herbst 2012 wochenlang auf Platz eins der Bestseller-Liste des »Spiegel«. Der Erfolg wäre so wohl nicht möglich gewesen - und dies ist der zweite Grund für den Hype um Neukölln -, hätten nicht zeitgleich die bürgerliche Bohème, erlebnishungrige Studenten, gutsituierte Medienschaffende und die Immobilienbranche die »Problemkieze« des Bezirks als Wohnquartiere entdeckt. Der Hype hält an, und folgerichtig brachte der Ullstein-Verlag vor wenigen Wochen mit »Die andere Gesellschaft« einen Nachfolger von »Neukölln ist überall« auf den Buchmarkt. Allerdings bleibt der Erfolg diesmal hinter dem des ersten Buchs von Buschkowsky zurück. In der vergangenen Woche wurde es vom »Spiegel« auf Platz 10 geführt - zwei Plätze schlechter als in der Woche davor.

Man tut Buschkowsky Unrecht, wenn man ihn und sein Buch erneut in eine Reihe mit Thilo Sarrazin und dessen Buch »Deutschland schafft sich ab« stellt. Für Sarrazin sind Einwanderer aus anderen Kulturkreisen ein Ärgernis, er toleriert Einwanderung allenfalls als notwendiges Übel zur Beschaffung von Arbeitskräften für die hiesige Wirtschaft. Buschkowsky dagegen akzeptiert Einwanderung als Voraussetzung für die Entwicklung einer Nation. Er betont, »dass sich jede Anstrengung organisatorischer, personeller und finanzieller Art lohnt, um aus Menschen, die zu scheitern drohen, lebenshungrige, mündige und kompetente Gesellschaftsmitglieder zu formen«.

Die wohlgemeinte Absicht ist erkennbar, doch Buschkowsky bleibt auch in seinem neuen Buch auf Distanz zur Mehrheit der 42 Prozent Menschen in seinem Bezirk, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Wer Menschen als Objekte betrachtet, die »geformt« werden müssen, braucht sich nicht zu wundern, wenn diese ihrerseits auf Distanz bleiben wollen.

Einer, der diese Distanz abbauen will, ist Christian Stahl. Vor gut zehn Jahren zog der Journalist in die Neuköllner Sonnenallee. Widerwillig, denn die Gegend empfand der Oxford-Absolvent als »laut, dreckig und runtergekommen«. Doch seine Neugierde auf das so ganz andere Milieu war größer. Er begegnete dem damals 14-jährigen Yehya E., Sohn einer lediglich geduldeten palästinensischen Flüchtlingsfamilie aus dem Libanon. Stahl freundet sich mit dem Nachbarjungen an. Der zeigt sich als doppelgesichtiger Charakter: auf der einen Seite der gute Schüler, der Klassensprecher, der hilfreiche Nachbarjunge; auf der anderen Seite der »Boss von der Sonnenallee«, in dessen Polizeiakte bereits, als er 15 ist, mehr als 50 Straftaten stehen, der Mitschüler quält, sie erniedrigt, sich an seinem Sadismus berauscht.

Stahl hat über diesen Jungen und seine Freundschaft zu ihm einen Film gedreht. »Gangsterläufer« kam 2011 in die Kinos, wurde mehrfach ausgezeichnet und sein Hauptdarsteller Yehya E. der Öffentlichkeit als Beispiel eines erfolgreichen Ausbruchs aus einer vorgezeichneten kriminellen Karriere präsentiert. Doch Yehya wurde rückfällig. Im März dieses Jahres wurde er erneut verurteilt. Zur Zeit sitzt er wegen mehrerer Raubüberfälle eine fünfjährige Haftstrafe ab.

Für Stahl war das ein Schock, den er in seinem Buch »In den Gangs von Neukölln« zu verarbeiten versucht. All das, was Heinz Buschkowsky in seinem Buch zu Recht kritisiert - kriminelles Verhalten, abweichendes Sozialverhalten, Rückzug in eine religiös begründete Parallelgesellschaft - kommt auch bei Christian Stahl vor. Intensivstraftäter wie Yehya E. seien nicht nur für ihr direktes Umfeld eine Gefahr, »sondern auch für unsere Gesellschaft«, schreibt Stahl. Und weiter: An Fällen wie dem von Yehya E. offenbare sich die Ohnmacht des Staates. Alle Maßnahmen des Bezirkes und die vielen kulturellen und sozialen Projekte seien ohne Wirkung geblieben. »Hier versagt das System«, zitiert Stahl aus einer Untersuchung des Rathauses Neukölln.

Bis zu diesem Punkt würde dem sicherlich auch Heinz Buschkowsky zustimmen. Nur in den daraus zu ziehenden Handlungsanleitungen für die Politik besteht Dissens. Als Gegenmittel plädiert Buschkowsky für eine Mischung aus staatlicher Null-Toleranz-Strategie (vor allem gegen jugendliche Straftäter) und Stärkung des Erziehungsauftrags der Schule. Man müsse, so Buschkowsky, vor allem die Töchter dem Einfluss ihrer patriarchalen, nach feudalen Prinzipien herrschenden Familienväter und Brüder entziehen.

Mit Stahl ließe sich dem entgegnen: Hier wird von der Wirkung nicht auf die Ursache, sondern von einer Wirkung auf die andere geschlossen. Es ist wie bei einer Reihe von hintereinander aufgestellten Dominosteinen: Das Umfallen des ersten bewirkt das Fallen des zweiten usw. Man muss, so Stahl, den ersten Stein ausfindig machen, um der Ursache auf den Grund zu gehen. »Die Ursachen für Yehyas Kriminalität (…) lagern zwischen den Aktendeckeln der Ausländerbehörde und der jahrzehntelangen Ausgrenzungspolitik, die davon ausging, dass die Flüchtlinge nach ein paar Monaten (…) wieder gingen.«

Folgt man Stahl, wäre vielleicht alles anders verlaufen, hätte Yehya E. Abitur machen dürfen und hätte sein Vater das Geld vom Jobcenter bekommen, um damit einen kleinen Blumenladen zu eröffnen. Dann wäre unter Umständen auch Yehyas Wunsch in Erfüllung gegangen, Klavier spielen zu lernen. Der Grad zwischen bürgerlicher Wohlanständigkeit und Kriminalität ist nicht deshalb so schmal, weil in den Stuben der Ausländerbehörde und den Jobcentern Menschen sitzen, die dem Einzelnen schaden wollen. »Das ist im System so angelegt«, zitiert Stahl den Neuköllner Integrationsbeauftragten Arnold Mengelkoch.

Es ist der Fatalismus in beiden Büchern, der Ratlosigkeit beim Leser hinterlässt. Für Buschkowsky scheitert die Integration eines erheblichen Teils der arabisch- und türkischstämmigen Migranten an deren Unwillen, überkommene kulturelle Vorstellungen aufzugeben. Stahl macht sich dagegen die Mühe, den Anteil der deutschen Politik an dem Problem zu benennen.

Vielleicht liegt die Lösung ganz nahe: nämlich mittendrin in Neukölln. Die Neuköllner Problemzonen verändern sich. Das Mietniveau steigt auf eine Höhe, die sich die Alteinwohner nicht mehr leisten können. Man sollte die emanzipatorische Wirkung dieser Entwicklung nicht zu gering schätzen. Die Urkraft des Kapitalismus bestand schon immer darin, durch Beschleunigung von Marktprozessen tradierte Lebensverhältnisse aufzubrechen und so soziale Abhängigkeitsverhältnisse zu überwinden. Es ist eine auf den ersten Blick zynische, auf den zweiten aber möglicherweise emanzipatorische Kraft entfaltende Folge der mit der Gentrifizierung einhergehenden Vertreibung der vor allem türkisch- und arabischstämmigen Wohnbevölkerung Neuköllns. Wer nach Spandau, Hellersdorf oder Marzahn ziehen muss, weil dort die Mieten noch erschwinglich sind, verliert nicht nur die Sicherheit der sozialen Netzwerke des Einwandererghettos, er kann eine ganz neue Welt gewinnen.

Heinz Buschkowsky: Die andere Gesellschaft. Ullstein, 302 S., geb., 19,99 €. Christian Stahl: In den Gangs von Neukölln, Hoffmann und Campe, 245 S., geb., 17,99 €.

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