Befehl! Punkt.

»Bornholmer Straße« ist vielleicht der beste Film zum Fall der Mauer - dank Charly Hübner als zweifelnd resolutem Grenzer

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Aussehen, so lautet eine Grundregel filmischer Attraktivitätsverteilung, hängt maßgeblich von der Geisteshaltung ab. Um in 90 Minuten möglichst wenig Zeit mit Charakterzeichnung zu vergeuden, bastelt man lieber an der äußeren Kontur. Die Guten sehen daher meist super aus, die Bösen dagegen, nun ja, eher scheiße. Ein DDR-Grenzübergang zum Beispiel, in einer kühlen Herbstnacht vor 25 Jahren: Nervös beobachtet die Wachmannschaft eine anschwellende Menge von Menschen, die ohne Visum von Ost- nach Westberlin wollen. Und wie sehen sie aus, die uniformierten Schießhunde des sinkenden Schiffes? Wie Trottel! Die Körper zu linkisch, die Haare zu bieder, die Brillen zu groß, die Blicke zu dumpf - die gesamte Schlagbaumbesatzung ist eine hyperbürokratische Karikatur ihrer selbst, allesamt Fratzen der Tyrannei, demaskiert von der wankenden Mauer daneben.

So stellt sich das gesamtdeutsche Fernsehen zum Jubiläum der Wiedervereinigung den Systemfeind vor. Noch ein Klischeestück über die Wendezeit, noch mehr fiese Realsozialisten im Kampf mit aufrechten Bürgern - mit dieser Feststellung könnte man es bewenden lassen, abschalten oder einnicken und rasch vergessen. Fertig.

Doch so einfach ist es nicht. Die ARD mag das Vorurteil des falschen Lebens im Falschen abermals nach Schema F wie Fremdscham kostümieren - abgesehen vom Äußeren fiktionalisiert »Bornholmer Straße« die Realität einer historischen Nacht aber am Rande der Brillanz. Christian Schwochows Film liefert mit das Beste, was zum 9. November ’89 samt Folgen bislang gedreht wurde. Und das hat zwei gleichrangige Gründe. Der erste steht im Drehbuch, das die Eltern des Regisseurs verfassten. Das Familienprodukt von der Ferieninsel Rügen entwickelt nämlich als erster Film zum Thema glaubhaft Empathie für die »Täter«, ohne ihr Handeln zu verharmlosen. Das Schlüsselwort lautet: Befehl.

Je mehr die bewaffneten Grenzer innerlich vorm wachsenden Mob im Neonlicht ihres Postens kapitulieren, je absurder ihnen das Exekutieren überkommener Gesetze im Lichte von Günther Schabowskis berühmter Pressekonferenz (»unverzüglich«) erscheint, je heftiger sie ihre aufkeimende Angst in hilfloses Paragrafenreiten kleiden, desto häufiger verweisen sie auf ihre Vorgesetzten. Gern ohne Prädikat und Objekt: Befehl! Punkt.

Dieser Kadavergehorsam - moosgrün, ketterauchend, ignorant und staubig - macht »Bornholmer Straße« zu weit mehr als bloß einer weiteren Tragikomödie über den diktatorischen Ernstfall. Es ist ein spielerischer Feldversuch hierarchischen Verhaltens insgesamt, eine mal dezent lustige, mal sehr ergreifende Studie gesunden Menschenverstands am Krankenbett der Unlogik. Die Protagonisten mögen dabei bis in die höchsten Dienstgrade handelnde Akteure des Legalen, aber Illegitimen sein - als in dieser Nacht lange nach der Moral auch noch das Recht kippt, werden sie selbst zu Opfern. Opfern der Geschichte, Opfern der Zukunft. Und die verkörpert, zweiter Grund, niemand so hinreißend wie Charly Hübner. Sein tapsig resoluter Oberstleutnant Harald Schäfer schwankt, so fabelhaft zwischen Macht und Ohnmacht, Wut, Verzweiflung, Loyalität und Trotz, als stünde der echte Harald Jäger - so heißt der Mann im wirklichen Leben - am Set, jener Chef vom Dienst, der damals kurz vorm Gewaltausbruch den Grenzbaum hochzog. Dafür braucht der 41-Jährige Hübner, wie bei Mecklenburgern üblich, nicht viele Worte; ihm reichen kleine Gesten, die mehr sagen als ein ganzer Abend RTL.

Wie sein schweigsam brodelnder Kommissar Bukow im »Polizeiruf« schürzt Hübner im Konfliktfall oft nur die Lippen und betrachtet den Lauf der Dinge wie von außen, hilflos und zweifelnd, doch voller Verantwortungsgefühl: für seine Grenze, die jener Schäfer seit 25 Jahren sichert. Für das System, hier symbolisiert von einem grandios zerfließenden Ulrich Matthes als Oberst Hartmut Kummer. Für seine Untergebenen von Milan Peschel über Rainer Bock bis Frederick Lau. Letztlich auch für die Menge, deren Zorn zusehends gerechter wirkt. Auch sie ist übrigens erstaunlich unfotogen. Wenn selbst die Guten schlecht aussehen dürfen, macht ein guter Film noch mehr richtig.

ARD, 20.15 Uhr

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