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Eine Gesellschaft im Stillstand

Warum die Politik endlich damit beginnen muss, sich vom Diktat der interessierten Wirtschaft zu befreien

  • Stephan Hebel
  • Lesedauer: 9 Min.
Deutschland geht es gut. Oder? Hinter der einschläfernden Rhetorik der »Eliten« in Politik, Wirtschaft und Medien scheint eine ganz andere Wirklichkeit auf. Ein dringendes Plädoyer für Veränderung.

Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Politik in Deutschland lässt sich als eine stabile, aber erstarrte Liebesbeziehung beschreiben. Die Gewohnheiten, die Gemeinsamkeiten, auch die kleinen Streitereien werden routiniert gelebt, aber mit ehrlichem Interesse aneinander, mit Leidenschaft gar, hat das nur (noch) wenig zu tun. Beide Partner ahnen oder wissen, dass das auf Dauer nicht reichen wird, um gemeinsam in die Zukunft zu gehen. Beide wissen, dass sie einiges ändern müssten, um das Gemeinwesen stabil zu erhalten. Aber sie wehren sich gegen diese Erkenntnis, denn es ist bequemer, im Gewohnten weiterzuleben und die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass es ohne Erneuerung auf Dauer nur ein Scheitern geben kann. Und dann ist da noch die gute Freundin, die immer wieder sagt: »Macht so weiter, euch geht’s doch gut, nur Träumer fordern mehr, und denjenigen, die alles besser machen wollen, werde ich schon die Meinung geigen.« Diese »gute Freundin« trägt in der politischen Wirklichkeit Deutschlands den Namen Angela Merkel. Niemand kann uns so gut wie sie den Eindruck vermitteln, der Stillstand sei unser größtes Glück.

Und tatsächlich: Wir Deutsche, jedenfalls viele von uns, verwechseln das Schlaflied, das die herrschende Politik und ihre Förderer in der Wirtschaft singen, mit der Wirklichkeit. Wir verschließen die Augen vor der Tatsache, dass die Welt uns verändern wird, wenn wir die Welt nicht verändern. Wir lassen uns in Sicherheit wiegen von denjenigen, die keinen Wandel wollen, weil sie vom jetzigen Zustand der Welt profitieren. Wir tun das nicht aus Dummheit oder Faulheit. Wir tun es, weil die Übermacht der »Weiter so«-Ideologie längst das Denken und das Lebensgefühl der Gesellschaft prägt.

Geht’s uns gut?

Uns geht’s gut, erzählt uns die Kanzlerin, unterstützt von vielen Medien. Sie lullt uns mit dem Märchen ein, es könnte alles so bleiben, wie es ist, wenn wir nur weitermachen wie bisher. Und kaum jemand widerspricht, vor allem seit SPD und Grüne um die Rolle als Merkels Juniorpartner konkurrieren. Das heißt aber auch, Opposition muss jetzt mitten aus der Gesellschaft kommen, von uns Bürgerinnen und Bürgern. Denn eines ist klar: Wenn nicht wir die Welt verändern, wird sie uns verändern – mehr, als uns lieb sein kann. Und dann droht auch unsere sogenannte »Insel des Wohlstands« unterzugehen.

Stephan Hebel, Jahrgang 1956, hat Germanistik und Lateinamerikanistik in Frankfurt am Main studiert und nach einem Volontariat ab 1986 bei der »Frankfurter Rundschau« als Redakteur gearbeitet. Zeitweise als Berlin-Korrespondent tätig, leitete er später das Politikressort und war stellvertretender Chefredakteur. Seit 2011 ist er als Publizist, Kommentator und Autor tätig. 2013 erschien von ihm »Mutter Blamage: Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht«. Auch das neue Buch von Hebel ist im Westend Verlag veröffentlicht worden: »Deutschland im Tiefschlaf. Verspielen wir unsere Zukunft?« Mehr Infos unter: www.westendverlag.de

Jene, die aus dem politischen Zustand in Deutschland Nutzen ziehen, haben in Angela Merkel ihre ideale Kanzlerin gefunden: Unternehmen und Vermögende, die von der zunehmend ungerechten Verteilung des Reichtums in Deutschland profitieren, können sich vor echten Reformen sicher fühlen. Bei allen Veränderungen, die die wechselnden Koalitionen unter Merkel vollzogen haben - Kinderbetreuung, Energiewende, Mindestlohn, Rente - bleibt ein Grundsatz immer unangetastet: Die Reformpolitik endet dort, wo sie nur mit dem Geld der Privilegierten zu bezahlen wäre. Keine Steuererhöhungen am oberen Ende, keine gerechtere Verteilung der Beitragslasten in den Sozialversicherungen, keine angemessene Beteiligung der Industrie an den Kosten der Energiewende. Und weil dadurch das nötige Geld fehlt, bedeutet das: keine ausreichenden Investitionen in Bildung, Verkehr oder Pflege, keine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, damit sie für echte Beteiligung am gesellschaftlichen Leben reichen, keine Entlastung von Gering- und Normalverdienern zum Beispiel bei den Kosten für Strom. Und spätestens seit die SPD wieder mit in der Regierung sitzt, ist der Widerspruch der auf Miniaturformat geschrumpften Opposition nur noch sehr leise zu hören - soweit sich die Opposition überhaupt dazu aufrafft.

Es liegt auf der Hand, dass die Bilanz des Stillstands aus dem allgemeinen Bewusstsein verdrängt werden muss, will man sich die »Uns geht’s gut«-Stimmung nicht verderben. Und genau darin ist Angela Merkel eine Meisterin: Mit ihren Einschlafgeschichten vom friedlichen und gerechten Deutschland versetzt sie das Land in süße Träume, die mit der Wirklichkeit wenig gemeinsam haben.

Leider spielen auch Medien oft die passende Melodie zu Merkels Schlafgesängen und schreiben freundlichste Kanzlerinnenporträts mit der Behauptung, »die Bürger« lebten lieber »ohne zu viel Politik«, statt die von der Politik verantworteten Missstände zu kritisieren. Diese Art von Journalismus macht den Erfolg der Einschläferungsstrategie erst komplett. Schaut man sich aber die Lage im Land etwas genauer an, dann zeigt sich: Es gibt für die Mehrheit der Deutschen eigentlich keinen Grund, sich der herrschenden Politik weiter schweigend zu unterwerfen. Denn es ist diese Mehrheit, die mit Lohnverzicht, Zukunftsunsicherheit und Stress dafür bezahlt.

Hinter der einschläfernden Rhetorik der »Eliten« in Politik, Wirtschaft und Medien scheint eine ganz andere Wirklichkeit auf: Das deutsche Wohlstandsmodell ist nicht nur ungerecht, was die Verteilung des Reichtums im nationalen, europäischen und globalen Rahmen betrifft. Es ist vor allem so, wie es seit der Wende von 1989 entwickelt wurde, auch nicht zu halten. Denn es basiert auf Grundlagen, die in dieser Form keine Zukunft haben, und untergräbt das ökonomische wie auch das soziale Gleichgewicht auf Dauer in gefährlicher Weise. Die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten einer kleinen Schicht von Vermögensbesitzern und ihren Banken; die weitgehende Verschonung der Profiteure der Finanzindustrie von den Kosten ihres Versagens in der Krise; die Vernachlässigung der sozialen wie technischen Infrastruktur durch die Politik - all das kann auf Dauer nur in die nächste, vielleicht noch folgenschwerere Krise führen. Und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich - national wie international - wird ganz sicher zu Konflikten führen, die sich mit Aufrüstung nach innen und außen auf Dauer nicht niederhalten lassen.

Der Stillstand in Deutschland hat viele Gesichter. Erstens: Die deutschen Sozialsysteme (Rente, Arbeitslosenversicherung, Gesundheit) sind hoffnungslos veraltet. Sie waren für eine Arbeitswelt geschaffen, die es so schlicht nicht mehr gibt. Die fortgeschrittene Privatisierung von Sicherungssystemen wie Rente und Krankenversicherung, mit denen die Politik darauf reagiert, schließt jedoch die ärmsten Schichten von der Vorsorge weitgehend aus.

Zweitens: Deutschlands wirtschaftlicher Erfolg kann sich bald als Blase erweisen, weil er immer noch zu stark auf Exporten beruht, für die andere sich verschulden, während die für die Binnennachfrage wichtigen Masseneinkommen höchstens bescheiden steigen. Fatal ist außerdem, dass die Regulierung der Finanzmärkte hinter dem Notwendigen zurückbleibt.

Drittens: Trotz Energiewende hat Deutschland seine Rolle als Vorreiter im Klimaschutz verloren. Eklatante Fehlentscheidungen gefährden den Umstieg auf erneuerbare Energien und seine Akzeptanz. Zu nennen sind vor allem eine Kostensenkungspolitik, die das Wachstum der Erneuerbaren schlicht ausbremst, sowie die Entlastung zahlreicher Unternehmen zulasten kleiner Verbraucher.

Viertens: Der inzwischen einigermaßen verbreiteten Erkenntnis, dass Einwanderung und Einwanderer zu Deutschland gehören, folgt keine konsequente Gesellschaftspolitik. Abwehr und Ausgrenzung sind die Folge - mit allen Konflikten, die daraus noch entstehen können.

Fünftens: Den Gefahren, die von Monopolkonzernen betriebene»soziale« Netzwerke und staatliche Überwachung im Internet für die Bürgerrechte bedeuten, stellt sich die Politik nur inkonsequent - wenn überhaupt.

Sechstens: Deutschlands Rolle in der Welt beschränkt sich weitgehend auf eine Außenpolitik, die Konflikte so lange ignoriert, bis ihr nichts mehr anderes einfällt, als sich an Militäreinsätzen in aller Welt zu beteiligen.

Es bedürfte keines revolutionären Umsturzes, wollte die Politik endlich damit beginnen, sich vom Diktat der interessierten Wirtschaft zu befreien. Als erste Schritte zur Wiedergewinnung staatlicher und gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit sowie zum Erhalt des inneren und äußeren Friedens wären nur einige Reformen notwendig.

Erstens: Die Sicherung sozialer Grundrechte wie Gesundheit, Rente oder Schutz bei Arbeitslosigkeit muss neu organisiert werden, indem alle Einkünfte je nach Leistungsfähigkeit zur Finanzierung herangezogen werden. Notwendig ist also die Einführung einer Bürgerversicherung und die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenzen, die mit steigendem Einkommen die relative Beitragsbelastung immer weiter sinken lassen. Ergänzend muss der Spitzensteuersatz wieder auf mindestens 53 Prozent (den Satz aus der Regierungszeit von Helmut Kohl) angehoben werden, um soziale (etwa die Grundsicherung im Alter) und andere Infrastrukturmaßnahmen (Schulen, Verkehr) finanzieren zu können.

Zweitens: Die deutsche Exportabhängigkeit sollte durch konsequente Stärkung der Binnennachfrage verringert werden. Dazu könnten unter anderem ein Mindestlohn über der Niedriglohnschwelle von gut 9,50 Euro, höhere Hartz-IV-Sätze und maßvolle Steuersenkungen für niedrigere Einkommen sorgen. Die von Deutschland erzwungene Sparpolitik in den südlichen Euro- ändern, die dort die sozialen Grundrechte und zugleich die Massenkaufkraft gefährdet, muss durch gezielte Investitionen (»europäischer Marshallplan«) für den wirtschaftlichen Wiederaufbau abgelöst werden, begleitet von konsequenter Korruptionsbekämpfung. Zur solidarischen Finanzierung muss ein Teil der Staatsschulden vergemeinschaftet werden (Eurobonds). Die Finanztransaktionssteuer darf nicht weiter hinausgeschoben, die Bankenregulierung muss konsequenter durchgesetzt werden.

Drittens: Die Energiewende muss endlich sozial-ökologisch organisiert werden, statt weiter zur Subventionsmaschine für stromfressende Unternehmen zu verkommen. Viertens: In städtischen Konfliktgebieten mit hohem Migrantenanteil muss massiv investiert werden, vor allem in (frühkindliche) Bildung. Die von Deutschland inspirierte, menschenverachtende und tödliche Abschottung gegen Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen muss durch eine Asylpolitik ersetzt werden, die dem humanitären Anspruch und der wirtschaftlichen Stärke Europas endlich gerecht wird. Das bedeutet unter anderem ein Ende der Praxis, Flüchtlinge (und mit ihnen den humanitären Anspruch Europas) in sogenannte »sichere Drittländer« abzuschieben. Die doppelte Staatsbürgerschaft muss in Deutschland bedingungslos gewährt werden.

Fünftens: Das Kuschen der deutschen Regierung(en) vor der Ausforschungspraxis sowohl der eigenen als auch »befreundeter« Geheimdienste muss beendet werden. Vorher dürfen Verträge, die im Interesse der Partner liegen (wie das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP) nicht weiter vorangetrieben werden. Das Monopol von Konzernen, die die Kommunikation in »sozialen Netzwerken« kontrollieren und Nutzerdaten zur Profitmaximierung missbrauchen, muss möglichst durch die Förderung von Alternativen gebrochen werden. Zumindest bedarf es einer wesentlich konsequenteren Durchsetzung von Datenschutz als bisher.

Sechstens: Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass statt militärischer Interessenwahrnehmung Konfliktvorbeugung an erster Stelle steht, etwa durch Verzicht der NATO auf eine Ausdehnung bis an die russische Grenze und Wiederaufnahme der Bemühungen um ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands. Rüstungsexporte müssen massiv beschränkt werden, unter anderem auch bei Kleinwaffen.

Das wären erste Schritte, wohlgemerkt. Jenseits solcher Reparaturen geht es auf längere Sicht zum Beispiel auch darum, die Gewährleistung von Grundbedürfnissen - Wasser, Energie, saubere Umwelt, ökologisch verträgliche Mobilität, Wohnen, Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge, auch Information und Kultur - der Logik des Marktes zu entziehen und als Gemeingüter öffentlich zu verwalten beziehungsweise, soweit private Organisationsformen sinnvoll erscheinen, zu kontrollieren. Und zwar nicht einfach in Form staatlich-zentraler Bürokratien, sondern unter demokratischer, sozusagen »öffentlich-rechtlicher« Aufsicht durch die Gesellschaft, der all diese Güter ja angeblich dienen sollen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit »öffentlich-rechtlich« ist nicht das bewegungsarme Parteien- und Verbändewesen gemeint, das wir vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen kennen, sondern neue, noch zu entwickelnde Beteiligungsformen.

Das alles bedeutet nichts weniger, als den Kapitalismus in seiner heutigen Form zu überwinden. Aber selbst wenn man die notwendigen Veränderungen fürs erste außer Acht lässt und die reale Politik nur an den zuvor genannten ersten Schritten misst, schon dann muss man feststellen: Die gegenwärtige Politik - und mit ihr große Teile der Gesellschaft - verschläft selbst die notwendigsten Reformen.

Und das, obwohl die damalige Opposition vor der Bundestagswahl 2013 das genaue Gegenteil versprochen hatte: Viele der genannten Reformschritte fanden sich damals in den Programmen von SPD, Linken und Grünen wieder. Revolutionär waren sie alle nicht, aber selbst nach den eher bescheidenen Maßstäben dieser Wahlversprechen wird der Vergleich mit den realen Projekten und Ergebnissen deutscher Regierungspolitik zeigen: Von den notwendigen Veränderungen ist das Land auch unter der großen Koalition Lichtjahre entfernt.

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