Wo alles noch zu ändern wäre

Deutsch-slowakische Koproduktion in der DT-Box: «Land der ersten Dinge» von Nino Haratischwili

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 3 Min.

An welcher Schuld bist Du zerbrochen?« fragt eine ältere, bettlägerige Dame ihre Pflegerin. Dieser Frage müssen sich im Stück der 1983 geborenen georgisch-deutschen Autorin Nino Haratischwili alle handelnden Personen stellen. Alle haben sie Schuld auf sich geladen und Ideale verraten. Als Preis für ihren Verrat hat ihr Leben eine katastrophale Wendung genommen. An der Schwelle zum Alter, bedrängt von kritischen Fragen, halten sie nach der großen Wende in Europa Rückschau: die ehemalige Richterin Lara aus dem Westen, die einst Urteile zugunsten Benachteiligter gesprochen hatte und später des finanziellen Vorteils wegen zur staatstreuen Dienerin wurde; ihre Pflegerin, eine ehemalige Orgelspielerin, die als Kind eines inhaftierten Dissidenten in einem sozialistischen Land zunächst benachteiligt war, dann aber durch die Mithilfe ihres für die Staatssicherheit arbeitenden Ehemannes eine große Karriere gemacht hat sowie eben dieser Ehemann, der im Alptraum die Kolonne der von ihm Verratenen und daraufhin Verurteilten aufmarschieren sieht.

Ihre Bilanz ist niederschmetternd, ihre Zukunftshoffnungen sind versiegt. Der Stasispitzel nimmt sich das Leben, die Orgelspielerin erfährt von den Straftaten ihres Sohnes und die Richterin flieht in einem surrealen Wunschtraum in das »Land der ersten Dinge«, dorthin, wo alles zum ersten Mal geschieht und alles noch änderbar ist. Das Outing der Figuren geschieht nicht aus freien Stücken, sondern erst nach der Aufforderung von Familienangehörigen, endlich Farbe zu bekennen. Der von der Großmutter, der Richterin, verhätschelte Enkel Mika wirft ihr vor, dass sie wegen der Aussicht auf eine bessere Wohnung zur Verräterin ihrer Prinzipien geworden sei, und die Orgelspielerin zwingt ihren Mann gnadenlos dazu, endlich zu gestehen.

Regisseurin Brit Bartkowiak hat nicht versucht, die aus verschiedenen Theatertraditionen und Schauspielschulen kommenden Darsteller auf eine gemeinsame Spielweise zu trimmen. Die Vielfalt von Ton und Geste geht ihr offensichtlich über stilistische Geschlossenheit. Gabriele Heinz als ehemalige Richterin will keine Figur »aus einem Guss« auf die Bühne stellen, sondern setzt scheinbar nicht zueinander passende Verhaltensweisen unvermittelt und konturenscharf gegeneinander. Sie ist nervende Grantlerin und schwärmerisch den Enkel liebende Oma, kumpelhafte Freundin der Pflegerin und dogmatische Agitatorin, sie verfällt in den herrischen Ton des Verhörs und gibt sich hemmungslos dem Traum von den »ersten Dingen« hin. Ihr erster Satz, die ebenso halsstarrig wie machtbewusst herausgepresste Behauptung, schon »ganz andere Krisen erlebt« und überwunden zu haben, schlägt den Ton ihrer Figurengestaltung an. Höhepunkt, wenn sie, die Gehunfähige, die Fesseln des Anstaltsbetts und damit die einer bedrängenden Realität von sich streift und nach den Klängen eines Songs von Bob Dylan einen hemmungslosen Tanz hinlegt.

Emilia Vasaryova als ehemalige Orgelspielerin und jetzige Pflegerin sucht eher die Nähe zu ihrer Figur, identifiziert sich mit deren Irrtümern und Aufbrüchen, mit ihrer Trauer und Resignation. Einmal jedoch fährt sie aus der Haut, nämlich dann, wenn sie ihren straffällig gewordenen Sohn gegenüber der Ex-Richterin verteidigt.

Die Regie bekennt sich zu einer optisch schlichten Erzählweise (Bühnenbild Nikolaus Frinke). Im kleinen Raum der »Box« des Deutschen Theaters Berlin stehen vor einem halbrunden Horizont nicht mehr als Tisch und Bett der beiden Protagonistinnen. Zum Schluss allerdings öffnet sich der Vorhang und gibt in ganzer Breite den Blick auf eine sonnendurchglühte Wüstenlandschaft frei, die das »Land der ersten Dinge« veranschaulichen soll. Der Sprung ins Surreale war an anderen Stellen mit schauspielerischen Mitteln überzeugender gelungen.

Diese Koproduktion ist einer von acht Beiträgen im Rahmen des Projekts »The Art of Ageing«, das Theater aus Deutschland, Rumänien, der Slowakei und Kroatien vereint und »Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit« sowie deren Auswirkungen auf das »individuelle Leben jedes Einzelnen in Gegenwart und Zukunft« zur Sprache bringen soll. Generationsübergreifend sollen die Inszenierungen in ihren Heimatländern gezeigt werden.

Slowakische Premiere am 27.11.; nächste Aufführungen in der DT-Box am 12., 13. und 14.12.

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