Funstille für Callcenter

Bundesverwaltungsgericht schiebt ausufernder Sonntagsarbeit einen Riegel vor

  • Sven Eichstädt, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Sonntag soll in der Regel nicht gearbeitet werden. Dieses Verfassungsrecht hat das Bundesverwaltungsgericht gestärkt. Videotheken und Callcenter müssen nicht jeden Tag offen sein, bestimmte es.

Bald 100 Jahre ist es her, dass das Recht auf arbeitsfreie Sonn- und Feiertage in Deutschland in der Verfassung verankert wurde. Als »Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung« stellten sie die Weimarer Verfassungsväter im August 1919 unter besonderen gesetzlichen Schutz. Auch das Grundgesetz sieht das so. Zudem schreibt das Arbeitszeitgesetz eine Arbeitspause von 24 Stunden an Sonn- und Feiertagen fest, sieht jedoch Ausnahmen vor – etwa für Polizei, Feuerwehr, Krankenschwestern oder Notdienste. Zudem ermächtigt es die Bundesländer, weitere Ausnahmen vom Sonntagsschutz zu beschließen. Die Frage war, wie weit die Länder gehen dürfen. Sie haben in den vergangenen Jahren immer mehr Verordnungen erlassen, die die Sonntagsruhe aushöhlen und zahlreiche Ausnahmen davon zulassen, Baden-Württemberg etwa im Jahr 2007 und Hessen 2011.

Gegen die sogenannte Bedarfsgewerbeverordnung des Landes Hessen haben die Gewerkschaft ver.di und zwei evangelische Gemeindeverbände geklagt. Schon vor dem hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel hatten sie in der Vorinstanz Recht bekommen. Große Teile dieses Urteils bestätigten jetzt die Leipziger Richter. Sie sehen keine Notwendigkeit für sonntags geöffnete Videotheken, Bibliotheken, Callcenter sowie Lotto-Annahmestellen. Zur Begründung führte der sechste Senat in Leipzig an: »Es stellt keinen erheblichen Schaden im Sinne des Gesetzes dar, wenn der Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe nicht hinter den Wunsch zurücktreten muss, spontan auftretende Bedürfnisse auch sofort erfüllt zu bekommen«, erklärte der Vorsitzende Richter Werner Neumann. Das Urteil hat Folgen auch für ähnliche Verordnungen in anderen Bundesländern. (BVerwG 6 CN 1.13)

Der VGH in Kassel hatte entschieden, dass auch Ausnahmeregelungen für Getränke- und Eisfabriken nichtig seien, die das Land Hessen vorgesehen hatte. Diese Eingriffe in den Sonntagsschutz seien so gravierend, dass nicht die Länder, sondern nur die Bundesregierung sie vornehmen dürften. Dem folgten die Bundesrichter nicht. Sie gaben dem VGH auf, sich noch einmal mit der saisonalen Sonntagsarbeit in Brauereien und Eisfabriken zu beschäftigen. Die Vorgaben für die Neuverhandlung in Kassel lauten: Die Produktion in diesen Betrieben sei nur dann auch an Sonn- und Feiertagen erforderlich, wenn die Kapazitäten der Hersteller nicht ausreichen, um ohne eine Produktion rund um die Woche auch in Spitzenzeiten der Nachfrage, also insbesondere im Sommer bei länger anhaltenden Hitzeperioden, einen dann gegebenen erhöhten Bedarf täglich decken zu können.

Nur in einem Punkt waren die Bundesrichter mit der hessischen Verordnung einverstanden: Buchmacher auf Pferderennbahnen dürfen auch sonntags arbeiten, da sie untrennbar mit den ohnehin veranstalteten Rennen verbunden sind. »Insoweit handelt es sich bei der Annahme von Wetten um einen spezifischen Sonn- und Feiertagsbedarf, der als Bestandteil des Freizeiterlebnisses, um nicht den Freizeitgenuss insgesamt zu gefährden, nur an Ort und Stelle befriedigt werden kann«, wie der Vorsitzende Richter Neumann erläuterte.

»Das ist für uns ein außerordentlich positiver Erfolg«, sagte Bernhard Schiederig, Landesfachbereichsleiter Handel bei ver.di in Hessen. Die hessische Landesregierung kündigte an, das Verbot in den betroffenen Branchen sofort umzusetzen. Auch Mecklenburg-Vorpommern will seine Regelungen zur Sonntagsarbeit nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig anpassen. »Wir haben auf diesen Richterspruch gewartet. Er bringt Rechtssicherheit«, sagte am Donnerstag ein Sprecher des Schweriner Sozialministeriums. Die seit 1998 gültige Bedarfsgewerbeverordnung, die landesweit Sonn- und Feiertagsarbeit etwa in Blumengeschäften, im Immobiliengewerbe oder auch in Callcentern regelt, solle gleich im neuen Jahr überarbeitet werden und noch 2015 in Kraft treten.
Der Call Center Verband kritisierte das Urteil als einen »Schlag ins Gesicht der Verbraucher«. Am Sonntag telefonisch nicht erreichbar zu sein, sei für viele Unternehmen keine Option. »Jetzt ist der Bundesgesetzgeber gefordert, schnell mit einer Änderung des Arbeitszeitgesetzes zu reagieren«, erklärte Verbandspräsident Manfred Stockmann.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) begrüßte den Richterspruch. »Möglichst wenige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen am Sonntag arbeiten müssen«, sagte EKD-Kirchenamtspräsident Hans Ulrich Anke am Donnerstag. »Hinter diesem Anliegen hat ein bloßes Wirtschafts- und Wettbewerbsinteresse zurückzustehen.« Der Sonn- und Feiertagsschutz gehe über den Schutz des Religiösen hinaus, weil er einen zeitlichen Gleichklang bei der Arbeitsruhe herstelle und damit eine wesentliche Grundlage des sozialen Zusammenlebens sichere.

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