»Viele meiner Freunde können noch nicht einmal die Schule beenden«

Soli-Aktion: Alina Alves über das marode brasilianische Bildungssystem und die Arbeit der Grupo AdoleScER

  • Vanessa Silva und Christina Schug
  • Lesedauer: 3 Min.
Aline Alves ist Pädagogikstudentin und Erzieherin der Grupo AdoleScER, auf deutsch: »Heranwachsen und Sein«. Diese Organisation ermöglicht Jugendlichen das Ausbrechen aus dem Teufelskreis von Gewalt, Drogen und Armut. Die 19-Jährige lebt in der Armengemeinde (Favela) Santa Luzia im Stadtteil Torre in Recife ( Brasilien). Über ihren Werdegang und ihre Tätigkeit sprachen mit Ihr Vanessa Silva und Christina Schug.

Was bedeutet die Organisation Grupo AdoleScER für dich?
Nach so viel Zeit und der langen Geschichte, die ich mit der Grupo AdoleScER habe, bedeutet sie für mich quasi mein eigenes Leben. Ich glaube, wenn ich nicht die Fortbildung zum AMIN (Jugendlicher Informationsmultiplikator) mitgemacht hätte, hätte ich schon mindestens ein Kind und würde in irgendeinem Supermarkt arbeiten.

Wann wurdest Du von der Ausgebildeten zur Ausbildenden für andere Jugendliche?
Mit 15 Jahren habe ich meine AMIN-Ausbildung abgeschlossen. Da kamen neue Verantwortlichkeiten auf mich zu: Aktivitäten begleiten, Workshop Pläne erarbeiten, weiter lernen und als Multiplikatorin in die Schule gehen. Diese Momente waren besonders wichtig, denn bei der Vorbereitung und Weitergabe habe ich noch mehr gelernt.

Wie ist heute dein Aufgabenbereich als Erzieherin bei der Grupo AdoleScER?
Heute gibt es die Ausbildung zum AMIN nicht mehr. Wir haben festgestellt, dass die Ausbildung nicht mehr mit der Realität der Jugendlichen zusammenpasst. Die Regierung hat Ganztagsschulen eingeführt und wir bekamen nicht mehr so viel Feedback aus den Gemeinden. Deshalb haben wir ein neues Programm entwickelt, in dem ich als Erzieherin arbeite: Für »PazAMIN - für eine Gemeinde ohne Gewalt!« schlossen wir Partnerschaften mit Schulen ab. Wir wählten Schülerinnen und Schüler aus, die auf ihr Umfeld Einfluss haben, dieser kann sowohl positiv als auch negativ sein. Zweimal pro Woche treffen sie sich in Gruppen und bekommen eine Ausbildung zur Reduzierung von Gewalt und Drogenmissbrauch in Gemeinde und Schule.

Du hast schon viel von Multiplikation gesprochen. Was genau bedeutet das für AdoleScER?
Es bedeutet einfach, dass wir die gelernten Inhalte weitergeben. Das kann in formalen Veranstaltungen in der Schule und den Jugendzentren von AdoleScER stattfinden, aber auch informell zu Hause, im Freundeskreis und der Familie. Diese Methode nennt sich auch »Peer-Education«, also lernen von und unter Gleichaltrigen.

Hat die Grupo AdoleScER auch deine berufliche Wahl beeinflusst?
Während der Ausbildung war es immer mein größter Wunsch, Erzieherin bei der Grupo AdoleScER zu werden. Es hat mir Spaß gemacht, zu lernen und ich hatte das Bedürfnis mein Wissen weiterzugeben. Ich habe mich so motiviert gefühlt, dass ich mich nach der Schule zu einem Studium entschlossen habe, mit dem ich später genau in diesem Feld arbeiten kann. Ich bin die Erste in meiner Familie, die die Möglichkeit hat, an der Universität zu studieren. Viele meiner Freunde können noch nicht einmal die Schule beenden.

Wie ist es in der Favela Santa Luzia zu leben?
Der Ort, an dem ich heute lebe, war früher ein Wald und wurde genutzt, um Leichen zu verscharren. Einige Leute haben den Ort besetzt und illegal eine Siedlung aufgebaut. Die Häuser hier sind aus Holz am Rand des Kanals gebaut, der in den Fluss Capibaribe führt. Einige stehen sogar auf Pfosten über dem Fluss. Dieses Problem gibt es in ganz Recife: Es gibt keinen günstigen Platz mehr zum Leben.

Brasilien hat mit der Wahl von Dilma Rousseff gerade eine historische Präsidentschaftswahl hinter sich. Wenn du die neue Präsidentin von Brasilien wärst - was würdest Du verändern?
Wenn ich Präsidentin wäre, würde ich in Wohnungsbau, vor allem aber in Bildung investieren. Einen würdigen Wohnort zu haben, mit Wasseranschluss und sanitärer Grundversorgung ist sehr wichtig. Noch wichtiger aber finde ich, die Schule zu verändern. Für mich begründet sich alles Schlechte unserer Gesellschaft dort: Autorität, Gewalt, Faulheit.

Das volle Interview: wfd.projekte

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal