»Wir müssen die Opfer um Vergebung bitten«

Nicolás Rodríguez Bautista, 1. Kommandant der kolumbianischen ELN-Guerilla, über den Friedensprozess

  • Lesedauer: 6 Min.
Das Nationale Befreiungsheer Kolumbiens (ELN) hat im Verlauf seines 50-jährigen Bestehens wiederholt Versuche unternommen, mit der Regierung in Bogotá Friedensgespräche aufzunehmen. Leider konnten diese nie erfolgreich abgeschlossen werden.

Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos sagt einerseits, dass die Friedensverhandlungen mit den FARC bis Jahresende abgeschlossen werden sollen, andererseits droht er hin und wieder mit dem Ende: »Ihr spielt mit dem Feuer. Dieser Prozess kann beendet werden.« Außerdem hat er betont, »es existiert nicht einmal die geringste Chance, dass wir uns auf irgendetwas einlassen ohne eine Entwaffnung«. Inzwischen hat auch das Nationale Befreiungsheer Kolumbiens (ELN) Sondierungsgespräche mit der Santos-Regierung aufgenommen. Ist Santos überhaupt ein glaubwürdiger Verhandlungspartner?
Wir kommen nicht umhin festzustellen, dass es bei Präsident Santos schwere Ungereimtheiten gibt. Trotzdem wollen wir schauen, was mit ihm möglich ist. In seiner ersten Präsidentschaftsansprache, vor mehr als vier Jahren, hat er gesagt, er hätte den Schlüssel zum Frieden. Wer in Kolumbien aber wirklich den Schlüssel für den Frieden hat, sind die großen Mehrheiten, gemeinsam mit der gesamten Gesellschaft. Es ist keine Sache von Einzelnen - ohne die Bedeutung Einzelner kleinzureden.

Inwieweit hat Santos für seine Verhandlungen Rückhalt in der Gesellschaft?
Es wurde ein Friedensprozess vorgeschlagen, den man innerhalb kurzer Zeit abschließen wollte, doch die Realität des Landes ließ diese Rechnung nicht aufgehen. Seine Strategie, inmitten des Konflikts zu verhandeln, obwohl von Seiten der Gesellschaft, vielen internationalen Stimmen und von den Aufständischen auf eine beidseitige Waffenruhe bestanden wurde, um ein günstiges Klima für die Verhandlungen zu schaffen, bedroht täglich den Prozess. Seine Strategie reichert ihn mit Unsicherheiten an und verschafft den Feinden des Friedens Spielraum.

Nicolás Rodríguez Bautista

Seit Januar dieses Jahres befindet sich das ELN in einer Sondierungsphase mit der Regierung des kürzlich wiedergewählten Präsidenten Juan Manuel Santos, um darauf aufbauend Friedensgespräche zu beginnen. Mit Nicolás Rodríguez Bautista, 1. Kommandant des ELN, sprach für »nd« Clara Pinzón.

Der Präsident verhandelt mit den Aufständischen, ohne einen Rückhalt im Staat zu haben, denn in Kolumbien gibt es keine staatliche Politik des Friedens, sondern des Krieges. Während die Guerilla all ihre Strukturen dem Frieden verpflichtet, tut es der Präsident ohne Rückhalt und Engagement der restlichen staatlichen Mächte.

Warum verhandelt das ELN trotzdem?
Weil Frieden inmitten all dieser Inkohärenzen und Schwierigkeiten eine Forderung der ausgeschlossenen Mehrheiten und der gesamten Gesellschaft ist. Die Kolumbianer sind eines quasi seit 1948 währenden ununterbrochenen bewaffneten Konfliktes müde, der ihnen von der sich an der Macht befindenden Klasse aufgezwungen wurde. Und genauso ist es auch mit der Sehnsucht der Aufständischen, die vor 50 Jahren zu den Waffen griffen. Sie träumten von einem Frieden mit Gerechtigkeit, sozialer Gleichheit, Demokratie und Souveränität in einem Land, dessen Schicksal die Machtergreifung einer ranzigen Oligarchie gewesen ist. Eine Oligarchie, die auf Staatsterrorismus und illegale Kriegsmachenschaften zurückgreift, um das Streben der Enteigneten nach Gerechtigkeit zu verhindern.

Warum begann das ELN erst jetzt Gespräche mit der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos?
Das erste Treffen unserer Delegation, um Gespräche mit der Regierung Santos zu initiieren, fand mit einigen Gesandten der Regierung Mitte 2012 statt. Ab diesem Moment war es die Regierung, die die Zeiten vorgab und obwohl es weitere Treffen gab, dauerte es bis Ende 2013, dass sich die Delegation der Regierung dafür entschied, einen schnelleren Kurs einzuschlagen. Und so kommt es, dass es erst am vergangenen 11. Juni zu einem ersten für die Öffentlichkeit bestimmten Kommuniqué kam, das von beiden Seiten unterschrieben wurde.

Seit den ersten Kontakten hat unsere Delegation vorgeschlagen, die Gespräche müssten öffentlich sein. Trotzdem forderte die Regierung die Gespräche müssten vertraulich und im Ausland abgehalten werden. Wir haben dies in unserem Interesse, Wege zum Frieden zu erkunden, akzeptiert.

In dem Kommuniqué haben sich beide Seiten bereits auf zwei Punkte festgelegt: der Umgang mit den Opfern des Konfliktes und die Beteiligung der Bevölkerung. Warum sind diese Punkte die ersten, auf die sie sich einigen konnten?

Weil es die ersten beiden Punkte der Agenda sind, die derzeit diskutiert wird. Beide Punkte haben eine tiefgreifende Bedeutung. Ein ernsthafter Friedensprozess mit richtiger Tragweite kann nicht ausschließlich von der Guerilla und der Regierung getragen werden, sondern muss von der ganzen Bevölkerung mitgetragen werden, insbesondere von den Ausgegrenzten und der marginalisierten Mehrheit. Sie sind diejenigen, die in diesem Konflikt leiden. Hinzu kommt, dass ein ernsthafter Friedensprozess nur von den Gemeinden ausgehend aufgebaut werden kann. Sie sind es, die das Land so gestalten müssen, wie sie es sich wünschen und sie müssen dafür kämpfen. Das ist der Friedensprozess, den Kolumbien braucht und deshalb ist es auch keine akademische Angelegenheit oder damit getan, Papiere zu unterzeichnen. Es ist ein Prozess der Wahrheit, von dem man weiß, wann er beginnt, aber nicht, wann er aufhört.

Den Opfern räumen Sie hohen Stellenwert ein. Weshalb?
Der Punkt zum Umgang mit den Opfern des Konfliktes ist von großer Bedeutung, denn die Konstruktion eines Friedens verläuft über ein Ausheilen sehr tiefer Wunden, ohne das eine Aussöhnung nicht möglich ist. In diesem von den Mächtigen eskalierten und seit vielen Jahren ausgeuferten Konflikt ist die Zahl an Opfern sehr hoch. Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sind Teil dieses Heilungsprozesses. Das ELN hatte niemals die Absicht, der Bevölkerung Schaden zuzufügen, aber in 50 Jahren der Konfrontation haben wir Fehler begangen und müssen die Opfer um Vergebung bitten. Das ist die zwingende Voraussetzung für Aussöhnung. Die Opfer müssen sich für diesen Prozess organisieren. Klar ist aber auch, dass der Staat nicht Richter und zugleich Verantwortlicher sein kann. Die Hochrechnungen besagen, dass Angehörige des Staatsapparats für mehr als 80 Prozent der Menschenrechtsverbrechen verantwortlich sind.

Die Regierungen Brasiliens, Chiles, Kubas, Ecuadors, Venezuelas und Norwegens haben die Sondierungsphase begleitet. Welche Rolle spielt die internationale Gemeinschaft im Allgemeinen und die genannten Regierungen im Besonderen während des Friedensprozesses?
Das ELN hält die Beteiligung der internationalen Gemeinschaft auf der Suche nach Frieden in Kolumbien für unentbehrlich. In früheren Prozessen haben andere Regierungen diese Prozesse begleitet, und jetzt eben wieder. Diese Begleitung wiederholt sich, weil es die Art und Weise ist, wie den Konfliktparteien dabei geholfen werden kann, Schwierigkeiten zu überwinden, die immer auftauchen. Wenn dieser Friedensprozess Erfolg hat, die Abkommen unterzeichnet sind, bleibt die Begleitung durch die internationale Gemeinschaft auch danach unabdingbar, Ihrer Unterstützung bedarf es, damit sich die Bevölkerung aus der tiefen Krise lösen kann, in der sie sich heute befindet. Das wird nach Jahrzehnten des Konflikts eine sehr komplexe Aufgabe werden.

Was erwarten Sie von den europäischen Regierungen und insbesondere von der deutschen Regierung als Zeichen der Unterstützung für den Friedensprozess in Kolumbien?
Im Jahr 1998 hat das ELN im Kloster Himmelspforten in Würzburg ein Treffen mit wichtigen kolumbianischen Persönlichkeiten abgehalten, um über den Frieden zu reden; ein weiteres gab es im Jahr 2000. Diese Bemühungen waren nicht umsonst, genau wie viele andere wichtige Aktivitäten für den Frieden in Kolumbien in den letzten 23 Jahren. All das Vorangegangene gibt uns die Klarheit, dass das was heute geschieht, ein erneutes Bemühen für den Frieden ist und der Frieden alle Mühe wert ist.

Die in Deutschland durchgeführten Bemühungen wären nicht ohne die Beteiligung der deutschen Kirche, wichtige Persönlichkeiten und der deutschen Regierung möglich gewesen. Wir zweifeln nicht daran, dass wenn die Umstände es verlangen, wir erneut auf die Unterstützung der deutschen Bevölkerung und Regierung zählen können bei dieser wichtigen Aufgabe für den Frieden in Kolumbien.

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