Viel zu wenig rote Karten

Urawa Red Diamonds verpasst den Meistertitel, der Trainer hadert mit dem Fair-Play-Ideal im japanischen Fußball

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 5 Min.
In Japan ist man stolz auf Fair Play. Michael Petrovic indes, österreichischer Trainer von Urawa Red Diamonds, sieht hierin den Grund für die verspielte Meisterschaft seiner Mannschaft.

In der zurückhaltenden, höflichen japanischen Gesellschaft funktioniert Fußball nicht wie in Europa. Auf dem Platz wird weniger geschrien, auch eine Kultur aggressiver Fans existiert kaum. Der Schiedsrichter dagegen gilt auf dem Rasen als unfehlbar, auch die Presse diskutiert dessen Leistungen nicht. Ein Beispiel: Als beim Eröffnungsspiel der WM 2014 der japanische Schiedsrichter Yuichi Nishimura einen sehr fragwürdigen Elfmeter für Brasilien gegeben hatte, regte sich die ganze Welt tagelang auf. In Japans Medien allerdings blieb es still.

Auch böse Fouls gibt es im japanischen Fußball kaum. Die Spielregeln, so scheint es hier, werden nicht als etwas interpretiert, das man ausreizen und auch überschreiten kann, sondern eher als allerletzte, mahnende Grenze des Möglichen. Und darauf ist man in Japan auch stolz. Die Fair-Play-Awards, die japanische Nationalmannschaften regelmäßig bei internationalen Turnieren gewinnen, werden im Fußballmuseum im Zentrum Tokios ausgestellt. Japanische Fußballer bräuchten eben keine Fouls, um Erfolg zu haben, so die Botschaft.

Etwas anders sieht das vermutlich Michael Petrovic, Trainer von den Urawa Red Diamonds. »Immer dieses Fair Play«, muss sich der Mann am Spielfeldrand, vornehm in Anzug gekleidet, am Sonnabend gedacht haben. Zwar stürmte er bei dem entscheidenden Spiel seiner Mannschaft nicht aus der Coachingzone heraus. Aber an ein paar japanische Gepflogenheiten scheint sich der Österreicher trotzdem nicht gewöhnt zu haben. Er sprang und stampfte herum und mehrere Male war seine Wut auf der Pressetribüne zu hören. Denn eigentlich hätte der Serbe mit österreichischem Pass japanischer Meister werden müssen.

Eigentlich: Noch drei Wochen vor Saisonende hatte der Spitzenclub Urawa Red Diamonds, bei dem Petrovic seit 2012 unter Vertrag steht, mit fünf Punkten Vorsprung die Tabelle der J-League angeführt. Doch dann zeigte das Team Nerven. Nach einer Niederlage am vorletzten Spieltag gab der Club aus einem Vorort von Tokio die Tabellenführung an Gamba Osaka ab. Und am letzten Spieltag empfing Urawa daheim Nagoya Grampus, eine Mannschaft aus dem Tabellenmittelfeld. Gegen sie musste unbedingt ein Sieg her, wollte man die Chancen auf den Titel wahren. Tabellenführer Gamba Osaka indes genügte ein Sieg gegen Tokushima Vortis, den Tabellenletzten.

Für Petrovic‘ Urawa begann alles wie geplant. Die Gastgeber lagen vor 53 000 Zuschauer im WM-Stadion von 2002 in Saitama schon nach zwei Minuten in Führung - und waren so vorübergehend japanischer Meister. Denn in der zeitgleichen Begegnung zwischen Tokushima und Osaka fiel kein Tor. So plätscherte die Partie Urawa gegen Grampus dahin, streckenweise wurde schöner Fußball gespielt. Doch nach einem Spiel, in dem es für Urawa um die Meisterschaft ging, sah es nicht aus. In der 72. Minute gab es die Quittung: Nach einer Ecke fiel aus dem Nichts der Ausgleich. Danach war der große Favorit Urawa wie gelähmt und fing sich kurz vor Schluss auch noch das 1:2 ein.

»Bevor ich nach Japan kam, hatte ich so etwas noch nie erlebt«, moserte Michael Petrovic nach verlorenem Spiel und verschenkter Meisterschaft. Seit acht Jahren ist der gebürtige Belgrader, der einst für Sturm Graz spielte und auch drei Jahre lang Trainer des Clubs war, in Japan zuhause. Dass der Trainerjob in Fernost mit seiner Fair-Play-Mentalität für diesen aufbrausenden, herzlichen Typen nicht immer einfach ist, konnte er nicht verbergen. »Hier ist es egal, ob es in einem Spiel um alles geht oder um nichts. Es wird immer gleich gespielt.« Das Feuer, die Leidenschaft fehle in Momenten, wenn sonst nichts mehr helfe. So könne man nichts gewinnen. Vor versammelter japanischer Presse erzählte Petrovic Anekdoten, die von seinem sichtlich betretenen japanischen Übersetzer in die Landessprache übertragen wurde. »Bei unserem Spitzenspiel gegen Gamba Osaka vor ein paar Wochen pfiff der Schiedsrichter Ecke. Aber es hätte Elfmeter sein müssen. Das sahen wir alle so. Aber keiner meiner Spieler reklamierte.« Die Journalisten schwiegen, Petrovic zuckte mit den Achseln.

Nach dem verkorksten Saisonfinale scheint der aufbrausende Petrovic mit seiner Kritik an der Fair-Play-Mentalität in Japan recht zu haben. »Fußball ist eigentlich ein sehr schmutziger Sport«, moserte er. »Manchmal musst du drei rote Karten bekommen, solange du am Ende gewinnst.« Und er fragte seinen Übersetzer: »Wann haben meine Spieler eigentlich das letzte Mal eine gelbe Karte bekommen?«

Für den ehemaligen jugoslawischen Nationalspieler Petrovic, der nach insgesamt 16 Jahren in Österreich 2006 als Trainer nach Hiroshima wechselte, wäre die Meisterschaft der J-League der bisher größte Erfolg gewesen. Immerhin: Wie zuvor während seiner Zeit in Hiroshima hat Petrovic die Mannschaft erneuert und auf Erfolgskurs geführt. »Aber Japans Fußball hat sich sehr stark entwickelt«, sagte er nach dem Spiel am Samstag trotz aller Wut. Als die Profiliga J-League vor 20 Jahren gegründet wurde, importierten deren Klubs noch im großen Stil gealterte Weltstars. »Heute sind die jungen Spieler viel besser als die großen Namen, die mal gut waren.«

Damit zielte Petrovic auch gegen den Club Cerezo Osaka, der in diesem Jahr mit den Altstars Diego Forlán aus Uruguay und Cacau aus Deutschland Großes vorhatte, dann aber abstieg. In der Aufstellung der Urawa Red Diamonds spielte am Sonnabend dagegen weder ein Ausländer noch ein alter Superstar. Allerdings könnte ihm so ein Spieler gerade gefehlt haben. Zum Beispiel für eine gelbe Karte.

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