Maxines New Yorker Passwörter

»Bleeding Edge«: Thomas Pynchons sechster Roman in deutscher Übersetzung

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: 6 Min.

Endlich ist sein lange erwarteter Roman »Bleeding Edge« erschienen. Aber der amerikanische Meistererzähler Thomas Pynchon ist wieder leer ausgegangen - kein Nobelpreis 2014.

Thomas Pynchon, 1937 auf Long Island, N.Y., geboren, scheut die Öffentlichkeit. Lange gab es von ihm nur zwei verwischte Passbilder eines jungen, durchtrieben blickenden Marinesoldaten. Der Autor hatte Grund, sich nicht zu sehr zu zeigen. Seine ersten großen Erfolge, »V« (1963) sowie »Die Enden der Parabel« (1974), wurden wegen angeblicher Pornographie für einen Preis abgelehnt. Noch heute sind Klassiker der Moderne wie James Joyce, Henry Miller u.a. wegen Obszönität verboten, ein Schlagwort, das ebenso auf das »Kommunistische Manifest« wie auf Erika Jongs »Angst vorm Fliegen« angewendet wird. Im ersten Fall zu Recht, wird doch darin das Benehmen der herrschenden Klasse als obszöner Akt gegenüber ihren Aufgaben festgehalten. Zu allen Zeiten gibt es eine Literatur, die über ein unbegrenztes Feld ihre Spiele entfaltet, gegängelt von den Regeln der dem Tag verpflichteten Schiedsrichter.

Obzwar er 1997 mit »Mason & Dixon« einen historischen Roman vorlegte, ist Pynchon ein Autor der Großstadt - New York, Los Angeles, Chicago, San Francisco. Eine links orientierte Geschichtsschreibung der nordamerikanischen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung kann man nach Romanen von Upton Sinclair, Howard Fast und nicht zuletzt des geheimnisvollen B. Traven in seinen Büchern finden.

»Bleeding Edge«? Der Verlag und sein schlagfertiger Übersetzer Dirk van Gunsteren taten gut daran, keine deutsche Annäherung an den Titel zu versuchen. Gemeint ist u.a. der von geschickter Aztekenhand geschleuderte Stein, dessen Kante den Tod bringt oder nicht. Die 41 Kaptitel des Romans werden dem Sinn nach halbiert durch den Todesschlag, den das Zwillingsgebäude World Trade Center am 11. September 2001 erfährt. Die Teile vor- und nachher gehören Maxine Tarnow, einer ehemaligen Steuerberaterin, die nach dem Bankencrash die Balance verliert, und unterstützt von dem Bankmagnaten Gabriel Ice ins große Geschäft der Betrüger und Hacker einsteigt. Sein Geld stützt die Computersicherheitsfirma Hashslingrz, die Microsoft wie Greenpeace aussehen lässt. Aber gilt es nicht, Betrüger zu betrügen? Gut, dass sie in ihrer Handtasche immer eine kleine Damenpistole, eine stets schussbereite Beretta bei sich hat.

Wie sauber aber ist die Weste des Herrn Ice? Hat er nicht den Tod des Fotografen Lester auf dem Gewissen, als dieser fremde Männer auf fremden Dächern in den Tagen von 9/11 mit Stalker Raketen hantieren sah? Unerwarteterweise bekommt der Roman partienweise Züge eines Krimis, um die Leser zu gewinnen, die ihre abendliche Kost vom Fernsehen beziehen. Eine Spur fremder Kameramänner führt nach Israel, zu Verbindungen, die Maxines Neffen zum Mossad unterhalten.

Thomas Pynchon verwickelt seine Figuren in absurde Situationen, die er auf überraschende Weise verknüpft. Im Afghanistan-Krieg wurde das berühmte Doppel der Buddhafiguren von Bamiyan zerstört, UNESCO-Welterbe und Inbegriff des Buddhismus. Das Doppelgebäude des Berliner Einkaufstempels KaDeWe lockte die Feinschmecker aus aller Welt. Gab es einen Zusammenhang zwischen beiden Anschlägen? Die Verschwörungstheorie, die wie ein kalter Wind durch die Seiten des Romans weht, hat ebenso absurde Züge wie der von Maxine wahrgenommene Geruch nach Kölnisch Wasser 4711 im Umkreis der Zwillingstürme. Ihre Phantasie wird grenzenlos, buchstäblich, wenn sie eine lenkende Hand bei der Auswahl jener aus dem großen Feuer entkommenden Menschen vermutet, die eine Weile als Zombies durch New York geistern, bevor sie ihre Reise bis zu einer Station in Nähe des Urinals fortsetzen dürfen.

Thomas Pynchons sarkastischer Humor schweigt dazu. Er verteilt wie Maxine seine Passwörter, nennt den von Maxine geschiedenen Ehemann Horst Loeffler - ein bescheidener Unternehmer, der, man sieht es vor sich, sein Kapital löffelweise auf den Teller häuft.

Der Roman beginnt an einem strahlenden (verstrahlten?) Frühlingstag in New York. Maxine begleitet ihre für derartige Fürsorge schon zu großen Jungs Ziggy und Ottis in das Kugelblitz-Gymnasium. Die Kinder machen lange Hälse, um sich beim Abschied ihrem Kuss zu entziehen. Sie denken darüber nach, ob in der beliebten Trickfilmserie »Die Simpsons« Vater Homer seinen Sohn Bart umbringen würde oder umgekehrt. Keins von beiden. Keine Serie spiegelt das Unverrückbare des amerikanischen Establishments so genau wider wie diese. Ein halbes Jahr später werden Ziggy und Ottis sich nicht umdrehen, wenn die Mutter zum Abschied winkt.

Otto Kugelblitz, der Begründer der Schule, war ein von Sigmund Freud in Unehren entlassener Schüler. Dieser fand einst sein Brot im New York der Depression, und er tröstete die Depressiven. Die, sofern sie wieder auf die Beine kamen, bedankten sich mit Zuwendungen und Banktipps. Davon baute Kugelblitz seine Schule und verkündete sein Programm als verbindlich.

Maxine zöge sich am liebsten in ein Familienglück zurück, zu einer Zeit, da Sex nicht zum Geschäft gehörte und wir unserer ältlichen Tante einen Gameboy zum Geburtstag schenkten, der sie ein Leben lang beglückte. Maxine sammelt die Lumpen der kaum noch gültigen Vergangenheit, die Werbung für verschwundene Lebensmittel, ein Abendkleid, der Besuch einer Modenschau im Stil der 20er Jahre, und die Welt ist verzaubert. All diese Dinge benutzt sie wie Passwörter, an anderer Stelle wie Tarotkarten, die sie über die Gesichter in der Subway legt und zu Gefangenen ihrer Zukunft macht. Ein Zauberschiff wartet am New Yorker Hafen und bringt sie nach Kalifornien, wo der Playboy, Liebhaber und Killer in amerikanischen Diensten, Nicholas Windurst, auf sie wartet. In ihrer körperlichen Erscheinung ist Maxine im doppelten Sinne schwer zu begreifen. Gleicht sie nicht dem flüchtigen Geist in einem Stück von Shakespeare? Ihre amerikanisch-kleinbürgerlichen Züge kann sie nicht ausleben. In den Familienszenen gibt es ein amüsantes kleines Seitenstück über die Probleme im Hause Loeffler, wenn der Hausherr nur noch leere Flaschen findet.

Auch dieser Autor hat seine Empfindsamkeit als Zuschauer der Manhattan-Filme von Woody Allen mitbekommen. Keine bessere Hymne für New York ist Sinatras Lied auf den Herbst »Autumn in New York« - von Pynchon gegen die Angst empfohlen, von den Ungeheuern der Fernsehfantasten verschlungen zu werden.

Geborene Erzähler sind sie alle in diesem Roman, die als Zuhörer in dieses Spiel hineingezogen werden. Die Kunst des Übersetzers erinnert an die Schlagfertigkeit eines Tennisspielers.

Dass in den USA das Englisch Amerikanisch heißt, ist bekannt; hier aber zeigt sich dieses Amerikanisch als eine Mischung aus Witz und Selbstverteidigung, wie sie in Berlin der 20er Jahre jedem Berliner geläufig war - »meschugge, hab keine Angst, bei mir beste sheen«.

Noch einmal versuchen wir, in Gedanken Thomas Pynchon zu treffen, vielleicht in einem der Coffeeshops in der Bronx oder am Lower Broadway, wo die alten Männer Schutz vor der Kälte suchen. Pynchon versteckt sich als »Dirty Old Man« unter Seinesgleichen. Nicht einmal das Wort Nobelpreis macht ihn neugierig. Alle schlürfen ihren Kaffee, als möchten sie uns auslachen. Sollte das Nobelpreiskomitee in Oslo uns fragen, wir zögerten nicht auf den großen Roman hinzuweisen, den jeder Autor im Schreibtisch versteckt hält, für den Tag seines hundertsten Geburtstags. Noch ist Thomas Pynchon 77 Jahre alt.

Thomas Pynchon: Bleeding Edge. Aus dem Englischen von Dirk van Gunste-ren. Rowohlt. 605 S., geb., 29,95 €.

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