Tunesien: Nach Präsidentschaftswahl sehen sich beide Kandidaten vorn

Ex-Regierungschef Essebsi erklärt sich nach Schließung der Wahllokale zum Sieger / Amtierender Übergangspräsident Marzouki widerspricht

  • Lesedauer: 4 Min.
Nach der Stichwahl um den ersten frei gewählten Präsidenten Tunesiens reklamieren beiden Lager den Sieg für sich - offizielle Ergebnisse werden erst Montagabend erwartet. Die Wahlbeteiligung ging leicht zurück.

Update 14.50 Uhr: Laut Hochrechnungen liegt der tunesische Politikveteran Béji Caid Essebsi Essebsi bei der Stichwahl um das Präsidetenamt mit knappem Vorsprung vor seinem Gegner, Übergangspräsident Moncef Marzouki. Das amtliche Ergebnis soll am Montagabend um 20 Uhr (Ortszeit und MEZ) vorliegen.

Die Tunesier hatten die Wahl zwischen dem 88-jährigen Essebsi von der antiislamistischen und neoliberal ausgerichteten Partei Nidaa Tounès und dem 69-jährigen Bürgerrechtler Marzouki vom sozialdemokratischen Kongresses für die Republik (CPR). Hochrechnungen zufolge fuhr Essebsi mit einem Ergebnis zwischen 52,8 und 55,5 Prozent einen knappen Sieg ein. Er hatte seinen Konkurrenten bereits im ersten Wahlgang vor einem Monat auf den zweiten Platz verwiesen, ohne dabei aber die nötige absolute Mehrheit zu erreichen. Der 88-Jährige hatte sich bereits unmittelbar nach Schließung der Wahllokale vor 2000 Anhängern in der Hauptstadt Tunis zum Wahlsieger erklärt.

Tunis. Fast vier Jahre nach dem Sturz des langjährigen tunesischen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali in der sogenannten Jasminrevolution hat das nordafrikanische Land am Sonntag über einen neuen Staatschef abgestimmt: Der ehemalige Regierungschef Béji Caid Essebsi erklärte sich am Abend zum Sieger der Stichwahl. Das Lager des amtierenden Übergangspräsidenten Moncef Marzouki, der gegen Essebsi antrat, widersprach umgehend. Erste offizielle Teilergebnisse wurden erst im Verlauf des Montags erwartet.

Zu der Abstimmung waren 5,3 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen. Es war die erste freie Wahl eines Staatschefs in 'Tunesien seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956. Nach Angaben der Wahlkommission seien 59 Prozent der Stimmberechtigten am Sonntag an die Urnen gegangen. Beim ersten Wahlgang am 23. November hätten noch knapp 64 der wahlberechtigten Tunesier ihre Stimme abgegeben.

Der 88-jährige Essebsi erklärte unmittelbar nach Schließung der Wahllokale vor etwa 2000 Anhängern in Tunis, er habe die Wahl gewonnen. Er dankte seinen Wählern und würdigte seinen Gegner Marzouki. »Tunesien braucht alle seine Kinder«, sagte er. Essebsi und Marzouki gelten als Erzfeinde.

Essebsi gehört der antiislamistischen und neoliberal ausgerichteten Partei Nidaa Tounès (Ruf Tunesiens) an, die bei der Parlamentswahl vor zwei Wochen stärkste Kraft geworden war. Sie gilt als Sammelbecken der alten Staatselite um Ben Ali, der im Januar 2011 durch einen Volksaufstand gestürzt wurde.

Der 69 Jahre alte Marzouki gehört dem sozialdemokratischen Kongress für die Republik (CPR) an. Der Bürgerrechtler war Anfang 2012 mit Unterstützung der islamistischen Partei Ennahda zum Übergangspräsidenten gewählt worden. Marzouki sagte, er werde Essebsis Äußerungen über dessen angeblichen Sieg nicht kommentieren. Es gebe allerdings Hinweise, dass er selbst vorne liege. Der Politiker sprach zu seinen Anhängern vor seiner Wahlkampfzentrale in der Hauptstadt.

Erste amtliche Ergebnisse sollen am Montag vorliegen, der Sieger soll spätestens am Mittwoch feststehen. Am Sonntagabend stand lediglich die Wahlbeteiligung fest. Der Wahlbehörde ISIE zufolge lag sie bei 59 Prozent. Die Stichwahl war notwendig geworden, weil in der ersten Wahlrunde am 23. November keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit erlangte.

Der Wahlkampf war von gegenseitigen Vorwürfen geprägt. Marzouki präsentierte sich als Verteidiger der »Revolution« vom Frühjahr 2011 gegen eine Rückkehr des alten Regimes. Zudem kritisierte er das hohe Alter seines Kontrahenten Essebsi, der bereits unter Staatsgründer Habib Bourguiba diente. Essebsi wiederum warf Marzouki vor, ein »Extremist« und Vertreter der Islamisten zu sein, die das Land seit 2011 heruntergewirtschaftet hätten.

Viele Tunesier äußerten sich kritisch zu den Schmutzkampagnen, äußerten jedoch die Hoffnung auf Wandel. Der Lebensmittelhändler Mohammed Taieb sagte: »Unsere Kandidaten, unsere Politik sind vielleicht nicht die Besten, aber es geht voran, die Diktatur ist vorbei.« Die Zeitung »Le Temps« rief die Tunesier auf, an die Urnen zu gehen, um nicht den »Zug der Geschichte« zu verpassen. »La Presse« schrieb von einem Tag, der »ewig im kollektiven Gedächtnis« bleiben werde.

Zehntausende Soldaten und Polizisten waren im Einsatz, um die Abstimmung abzusichern, nachdem eine Dschihadistengruppe, die sich zum Islamischen Staat (IS) im Irak und Syrien bekennt, mit Anschlägen gedroht hatte. In der Region von Kairouan gab es in der Nacht zum Sonntag einen Angriff auf eine Schule, in der Wahlunterlagen gelagert wurden. Dabei wurden laut dem Verteidigungsministerium ein Angreifer getötet und drei Männer festgenommen.

Das Ministerium ging aber nicht von einem dschihadistischen Hintergrund aus. Der getötete Mann habe ein Jagdgewehr bei sich gehabt, doch würden »Terroristen allgemein nicht Jagdgewehre« benutzen, hieß es. Ministerpräsident Mehdi Jomaa sagte nach dem Angriff, die beste Antwort auf derartige Attacken sei, »zahlreich und in aller Ruhe zur Wahl« zu gehen. Agenturen/nd

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