Am Ende des Tunnels

Eine Halberstädter Initiative versucht, ankommenden Asylbewerbern bei ihren ersten Schritten in der Stadt zu helfen

  • Uwe Kraus, Halberstadt
  • Lesedauer: 5 Min.
Ab 18 Uhr fährt kein Bus mehr, um 22 Uhr wird der Halberstädter Bahnhof abgeschlossen. Doch gerade abends kommen häufig Asylbewerber in der Stadt an. Und dann?

Der Wind pfeift eisig, das kalte Licht auf den Halberstädter Bahnsteigen verströmt kaum Willkommenswärme. Menschen eilen dem heimischen Abend entgegen. Die Aussteigenden verteilen sich, werden von Angehörigen empfangen oder fingern ihre Autoschlüssel heraus.

Mit billigen Taschen und oft exotisch wirkender Kleidung, manchmal Kinder an der Hand, bleiben unsicher um sich blickende Menschen zurück, folgen dem Schwarm durch den Bahnhofstunnel. Niemand erwartet sie, keiner sagt ihnen, wie es an diesem Winterabend weitergeht: an den Rand der Stadt, wo sie ein Bett und eine Mahlzeit erwartet. Dort, wo eine Behörde sie hinverteilt hat.

Zwei Männer stehen an diesem Abend oben an der Betontreppe, am Ende des Tunnels, durch den die neu ankommenden Asylbewerber gehen müssen. An den neu gekauften blauen Westen steht in mehreren Sprachen »Willkommen«. Die Menschen, die die Unbekannten erwarten, sind Steuerberater, Ingenieur, Studentin, waren Ärztin, Pfarrer oder Rechtsanwalt. Von 18 bis 23.30 Uhr stehen sie am Halberstädter Hauptbahnhof, um zu helfen.

»Im Sommer haben wir im Presbyterium der Liebfrauenkirche öffentlich über Willkommenskultur gesprochen«, erinnert sich Reinhard Beck, Pfarrer im Ruhestand. »Wie empfängt Halberstadt die Flüchtlinge, die zur Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Sachsen-Anhalt wollen, haben wir geschaut. Wir wussten ja von der Bahnhofsmission, wie die Lage ist. Ab 18 Uhr fährt kein Bus mehr, 22 Uhr wird der Bahnhof abgeschlossen. Menschen stehen, nach Tausenden Kilometern Flucht, kurz vor dem Ziel plötzlich vor der Tür.« Sie haben ein amtliches Stück Papier in der Hand, wissen damit aber meist herzlich wenig anzufangen. So entstand die Initiative der Halberstädter Liebfrauengemeinde, die ankommenden Flüchtlinge auf ihren Schritten in Halberstadt zu begleiten. Die führen vom Bahnhofstunnel bis zum Taxi-Stand. »Mit ihrer Bescheinigung können die Asylbewerber in die Gemeinschaftsunterkunft vor den Toren der Stadt gefahren werden. Die Fahrer rechnen dann direkt mit dem Land ab«, erklärt Reinhard Beck. Halberstädter Frauen und Männer sind für einige Minuten und Meter Begleiter. »Kaum jemand spricht Deutsch. Wir wissen nichts vom Schicksal, das die Menschen nach Halberstadt verschlagen hat. Sie sind kaputt, gestresst. Und unendlich dankbar für die Ersthilfe hier am Bahnhof. Das zeigen ihre Augen, ihre Gesten.«

Abend für Abend sitzen Mitglieder der Liebfrauen-Initiative in den Räumen der Bahnhofsmission und gehen bis kurz vor Mitternacht alle Stunde zu den ankommenden Zügen. Sie finden, was sie hier tun, ist sinnreich und nützt. Auch wenn die Initiative auf Spenden angewiesen ist. Constantin Schnee, Leiter der Bahnhofsmission, bestätigt, dass »sich durch die Initiative auch der Blick der Taxifahrer auf die Asylsuchenden gewandelt« habe.

Was die Ehrenamtlichen am Bahnhof tun, steht selten im Fokus der Öffentlichkeit. Sie machen auch kein Aufheben darum. Doch sie sind die ersten Wegbereiter für Schwarzafrikaner, Menschen vom Balkan oder aus Syrien und Eritrea, die in der Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber in Sachsen-Anhalt (ZASt) ein Zuhause auf Zeit finden. Die Halberstädter haben sich mit den Bewohnern in den Plattenbauten weit vor der Stadt arrangiert, dort wo einst junge Männer im Grenzausbildungsregiment »Martin Hoop« zu Soldaten der Grenztruppen wurden.

Auch in Halberstadt kommen zunehmend mehr Männer, Frauen und Kinder an. Im ganzen Jahr 2007 trafen 567 Asylbewerber hier ein, allein im Juli 2014 waren es 600. Militärische Konflikte, Bürgerkrieg und Verfolgung in der Welt kommen in Sachsen-Anhalt an. Das Innenministerium erwartet dieses Jahr mindestens 6000 Antragsteller, im vergangenen Jahr waren es 3400. Der »Königsteiner Schlüssel« legt fest, dass 2,9 Prozent der in Deutschland eintreffenden Asylbewerber Sachsen-Anhalt zugeteilt werden. Derzeit führen Syrier die Liste der Asylsuchenden an. Es rührt das Herz der Freiwilligen am Bahnhof, wenn spätabends eine Frau aus Syrien mit drei Kindern, zwei, fünf und zehn Jahre alt, hier ankommt. Welche dramatischen Szenen haben sie in ihrer Heimat erlebt, oder auf der Flucht? Inzwischen ist jeder vierte bis fünfte Asylbewerber ein Kind.

Im Nachbargebäude der ZASt, den Büros des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, wird über die Asylanträge entschieden. Das kann Monate dauern. Auch wenn bundesweit bis November 2014 nur 1,7 Prozent der Asylanträge anerkannt wurden, die ZASt-Mitarbeiter behandeln alle Antragsteller gleich. In ihrer Nach-Halberstadt-Zeit müssen die Asylbewerber untergebracht werden; in Wohnungen, in Gemeinschaftsunterkünften, meist sind die Nachbarn nicht besonders begeistert. Jeder Landkreis bekommt nach einem besonderen Schlüssel Asylbewerber zugewiesen. Über 7700 Plätze stehen in Sachsen-Anhalt laut Innenministerium dafür zur Verfügung. Tendenz steigend.

In den vier bis sechs Wochen, die die Asylbewerber in der Halberstädter Ex-Kaserne vor ihrer Weiterreise in die Landkreise verbringen, ist es schwer, soziale Beziehungen aufzubauen, so sehr sich auch Ehrenamtliche und Wohlfahrtsverbände bemühen. Die »Wartezeit«, bis der Asylantrag beschieden ist, muss überbrückt werden. Doch es gibt Unterstützung von der Caritas und vom Flüchtlingshilfeverein, es gibt soziokulturelle Projekte.

Es wird eng in der ZASt - kürzlich hat das Land Raum für mindestens 200 Frauen, Männer und Kinder auf zwei bislang stillgelegten Kasernenetagen geschaffen. Für 2015 und 2016 sind noch einmal je zwei Millionen Euro für die Betreuung eingeplant, sagt eine Sprecherin des Innenministers. Zusätzlich soll es jährlich 350 000 Euro für die Kommunen geben, um die Integration von Flüchtlingen und Zuwanderern zu finanzieren.

Die Frauen und Männer der Liebfrauen-Willkommensinitiative, die ihre Abende am Bahnsteig verbringen, wissen, wie wenig es manchmal nur braucht, um Dankbarkeit zu empfangen. Deshalb machen sie sich jeden Tag neu auf diesen Weg.

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