Tropfen im Ozean des Elends

Ein katholischer Pfarrer aus der Schweiz hat schon Tausenden afrikanischen Bootsflüchtlingen im Mittelmeer das Leben gerettet - allein mit Hilfe seines Mobiltelefons

  • Eric Breitinger
  • Lesedauer: 7 Min.
An manchen Tagen läutet Zerais Handy laufend. Er erhält Notrufe, wenn er gerade ein Kind tauft oder seine 14 Gemeinden besucht. Über 5000 Flüchtlinge in Seenot hat er bisher gerettet, sagt die italienische Küstenwache.

Sein Mobiltelefon hat er in der Sakristei gelassen. Ein Helfer holt ihn, wenn ein Notruf hereinkommt. Pfarrer Mussie Zerai steht an diesem Samstagmorgen vor dem Altar im Halbschatten: ein dunkelhäutiger, bärtiger Mann in einer Soutane und einem knöchellangen Umhang aus goldfarbenem Brokat mit dem weißen Käppi auf dem Kopf, das katholische Priester im ostafrikanischen Eritrea während der Messe tragen. Er betet auf Geez, der altäthiopischen Liturgiesprache. Sein Bass erfüllt mühelos den Raum der Kirche St. Josef im schweizerischen Solothurn. Dann stimmt er den Liturgiegesang Ziema an, seine Gemeinde fällt mit ein. Die Morgensonne taucht in dem Moment das Kruzifix an der Rückwand des Chors in ein strahlend helles Licht. Das dürfte Zerai gefallen.

In der zweiten Bank sitzt ein Mann mit blauer Windjacke und den harten Gesichtszügen eines Menschen, der viel erlebt hat. Er stellt sich später als Jacob vor, ist 29 Jahre alt und guter Stimmung: Fast sieben Monate nach seiner Rettung begegnet er heute zum ersten Mal seinem Lebensretter. Zerais markanten Bass hatte er bereits am 28. März 2014 kurz vor 18 Uhr aus dem Satellitentelefon dröhnen hören. Zerai sagte: »Bleibt ruhig, Hilfe kommt. Bleibt ruhig.«

Jacob trieb damals mit 300 anderen Flüchtlingen in einem alten Kahn auf dem Mittelmeer, der Motor war kaputt. Sie saßen Schulter an Schulter, dicht gedrängt. Es roch nach Angst. Jacob fürchtete die Rückschaffung nach Libyen: Er hatte allein 1700 Dollar für die Schiffspassage bezahlt. Zuvor war er 28 Tage lang im Lastwagen durch die Sahara gefahren und fast verdurstet, hatte in acht Monaten den Sudan durchquert und dafür weitere 1700 Dollar an die Schlepper bezahlt. Er hatte keine andere Wahl, nachdem er nach drei Jahren Haft und Folter aus einem Gefängnis in Eritrea über die Grenze geflohen war. Zuvor war er als Soldat aus der Kaserne weggelaufen, aber erwischt worden. Human Rights Watch wirft dem Regime des seit 21 Jahren diktatorisch regierenden Isaias Afewerki schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Junge Männer würden für unbeschränkte Zeit zum Militärdienst gezwungen.

An manchen Tagen läutet Zerais Handy laufend. Er erhält Notrufe, wenn er gerade ein Kind tauft oder seine 14 Gemeinden in Lugano, Genf oder Basel besucht. Seit Oktober 2011 betreut er im Auftrag des Vatikans die rund 3600 eritreischen Katholiken in der Schweiz. Ein Hilferuf erreichte ihn auch letzte Woche, als er als Vertreter der im Jahr 2006 von ihm gegründeten italienischen Flüchtlingsorganisation Habeshia in Brüssel mit EU-Parlamentariern über Einwanderungspolitik sprach. Er sagte »Sorry, one business call«, stürmte aus dem Saal. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück, als wäre nichts gewesen. Über 5000 Flüchtlinge in Seenot hat der 39-jährige Pfarrer bisher gerettet, sagt die italienische Küstenwache.

Seit Anfang letzten Jahres starben bei der Überfahrt im Mittelmeer 3419 Menschen, bilanzierte Mitte Dezember das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR. Über 200 000 Menschen hatten die Flucht nach Europa gewagt. Das Mittelmeer wurde damit laut dem UNHCR zur »tödlichsten Flüchtlingsroute der Welt«. Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Seid Ra’ad al-Hussein bezeichnete das »Desinteresse« in zahlreichen EU-Ländern an dem Leid der Menschen als »zutiefst schockierend«.

Zerai hinterließ seine Handynummer Freunden in Eritreas Hauptstadt Asmara, als er seine Großmutter im Jahr 2003 ein letztes Mal besuchte. Sie hatte ihn und die sieben Geschwister aufgezogen, nachdem seine Mutter tot und der Vater vom Geheimdienst verschleppt worden war. Sie hat ihm auch den Glauben mitgegeben. Mit 16 ging er nach Rom, um Pfarrer zu werden. Er studierte Theologie, ließ sich im Jahr 2010 zum Priester weihen.

Bald nach seiner Rückkehr nach Italien im Jahr 2003 erhielt Zerai erste Anrufe von Eritreern, die in Sudan, Ägypten oder Libyen in Schwierigkeiten steckten. Seine Telefonnummer geht heute unter Flüchtlingen aus Eritrea von Hand zu Hand und ist in die Wände vieler Flüchtlingsboote geritzt.

Mussie Zerai besitzt selbst nur einen Flüchtlingsausweis. Die eritreische Botschaft in Rom hat seinen Pass einbehalten, als er ihn im Jahr 2007 zum Verlängern einschickte. Mit seiner öffentlichen Kritik an den Menschenrechtsverletzungen in Eritrea und seinem Engagement für die eritreischen Flüchtlinge ist der katholische Pfarrer für das Regime in Asmara längst eine Hassfigur. Die Schergen des Regimes würden ihn sofort verhaften, wenn er ins Land einzureisen versuchte. Er sagt, »es ist ein großer Schmerz für mich, meine Geschwister in Eritrea nie treffen zu können«. Er kann nicht rein, sie nicht raus. Sie können nur telefonieren.

Um kurz vor vier läutet sein Handy, die Nummer eines Satellitentelefons. Zerai sagt »Selam« und wirkt auf einen Schlag hochkonzentriert. Ein junger Mann namens Amanuel ruft aus Libyen an. Eine Miliz hält in einer ehemaligen Schule 400 Flüchtlinge aus Eritrea gefangen, darunter zwanzig Kinder. In der Nacht konnte eine Gruppe fliehen. Am Morgen nahmen die Milizionäre Rache, schlugen Gefangene, zündeten ihre Habe an. Die Miliz will die Flüchtlinge als Sklavenarbeiter an Menschenhändler verkaufen. Zerai fragt in aller Seelenruhe nach: Misrata? Tote? Er sagt, er werde am Abend die italienische Botschaft in Tripolis anrufen. Sie soll die lokalen Autoritäten kontaktieren, damit diese Druck auf die Miliz ausüben. Eine andere Einflussmöglichkeit sieht er nicht, eine funktionierende Zentralregierung gibt es nicht mehr.

Tod und Folter bringen Mussie Zerai nicht aus der Ruhe. Das fiel seiner Großmutter schon früh auf: Ein naher Verwandter war in Asmara gestorben, doch Mussie zeigte als einziges Kind der Familie keine Gefühlsregung. Die Fähigkeit zur Ungerührtheit ist heute sein größtes Kapital: Egal, ob er Notrufe von Schiffbrüchigen entgegennimmt oder ob im April 2014 Papst Franziskus am Rande einer Konferenz im Vatikan die Lage der afrikanischen Flüchtlinge erklärte, die nach Europa wollen - Zerai bleibt äußerlich stets unberührt, besonnen und bescheiden. Was ihn bewegt, behält er für sich. So wählte er am 28. März 2014 nach dem Anruf von Jacobs Boot die gespeicherten Nummern der italienischen Seenotzentrale und der Küstenwache. Ein Hubschrauber entdeckte das Boot am Abend. Um sieben Uhr morgens nahm ein italienisches Rettungsschiff die 345 Flüchtlinge auf, brachte sie nach Sizilien.

Solche Rettungsaktionen müssten nicht sein, sagt Zerai, wenn die EU endlich von ihrer Abschottungspolitik abrücken würde: »Die EU steckt viel Energie in den Ausbau der Festung Europa, tut aber wenig, um menschliche Tragödien unter den Flüchtlingen zu verhindern und die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen.« Zerai fordert, die EU müsse sich mehr um die Hunderttausenden eritreischen Flüchtlinge in Nachbarländern wie Äthiopien kümmern, bevor diese nach Europa aufbrechen. Die EU müsse ihnen eine Chance zur legalen Einwanderung geben, etwa, indem sie ihre Botschaften in Afrika für Verfolgte öffne. Dann müssten diese sich nicht mehr den Schleppern ausliefern und eine riskante Reise wagen, nur um auf europäischem Boden einen Antrag auf Asyl stellen zu können.

Zerai kritisiert auch, dass die italienische Regierung und die EU am 1. November 2014 die erfolgreiche italienische Seenotrettungs-Operation »Mare Nostrum« eingestellt haben, bei der die italienische Marine und die Küstenwache innerhalb eines Jahres über 100 000 Bootsflüchtlinge gerettet haben. Der Haken: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat für ihre neue Mission »Triton« weniger Material und Personal zur Verfügung, ihre Patrouillen sind zudem nur noch in EU-Gewässern unterwegs, aber nicht mehr wie »Mare Nostrum« auch in den Meerabschnitten, die zu Libyen gehören. Für Mussie ist klar: »Das führt wahrscheinlich zu noch mehr Toten.«

Wir sitzen im Zug. Zerai will nach Hause in sein angemietetes Zimmer in einer Pfarrei bei Olten, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt im Schweizer Mittelland. Er muss für morgen die Gottesdienste in Bern und Luzern vorbereiten. Nächste Woche reist er nach Rom. Vor kurzem war er auf der Insel Lampedusa vor Sizilien. Er traf Angehörige der 366 Opfer des Schiffsunglücks vom Oktober 2013, hielt die Gedenkmesse. In den Pausen twittert er per Handy News zur Lage der afrikanischen Migranten, postet Fotos auf Facebook, gibt Interviews. Er sagt: »Ich kenne inzwischen meine Grenzen: Ich bin nicht der Retter der Welt.« Er nehme sich inzwischen auch mal frei und ziehe sich für ein paar Tage in ein Kloster zurück, um »die Batterien wieder aufzuladen«. Zerai begreift sein Engagement als christlichen Dienst für Menschen, die in höchster Not sind: »Ich tue nur, was ich kann, auch wenn es nur ein Tropfen im Ozean des Elends ist. Den Rest überlasse ich Gott.«

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