- Kultur
- »Fahrradstraße«
Poller und Poesie
Unsere »Fahrradstraße« war für Fahrradfahrer die Hölle. Jetzt sind plötzlich Poller da! Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen
Lange hat mich kein politisches Ereignis mehr so berührt wie die Poller-Aufstellung in der Stargarder Straße. Die Obama-Wahl damals, das war was, okay, oder der Mauerfall, der in meinem Fall – in Lübeck am Zonenrand – ein Zaun-Fall war. Das waren alles beschwingende, packende Erlebnisse, man schaute sich um, die Menschen waren dieselben wie vorher, aber die Welt fühlte sich neu an plötzlich.
In der Stargarder Straße haben sie vor ein paar Jahren ein paar Schilder aufgehängt und ein bisschen auf dem Asphalt rumgemalert, und somit sollte diese Straße voller irrem Durchgangsverkehr eine »Fahrradstraße« sein. Ha! Den Durchgangsverkehr interessierte das genau null. Der Hass auf die dummen Autofahrer wuchs mit jedem Tag, an dem man sich dort unsicher durchpedalte, vorne zugestellt von Lieferwagen, hinten angedrängelt von fucking Autofahrenden. Was für ein dummes Pack! Man wünschte sich einen Polizeistaat in diesen Momenten, einen, der mal richtig hart durchgreift, und zwar täglich!
Die KI macht bald alles, heißt es. Schreibt etwa Texte auf Zuruf. Binnen fünf Sekunden. Pah! Das können wir auch, und viel besser. Hier schreiben wir Texte ohne Nachdenken. Binnen fünf Minuten. Mit dem gewissen Etwas des Lebendigen.
Täglich sammelte ich Spucke in meiner Mundhöhle, der Mundhöhle eines aufgeklärten, friedliebenden Menschen, und täglich wartete ich beim unsicheren Herumradeln auf eine Gelegenheit, dem nächsten SUV-Depp zu zeigen, was ich von seiner Durchfahrt durch die Stargarder Straße halte – kurz: Die Einrichtung einer Fahrradstraße hatte einen vorzivilisatorischen, barbarischen Zustand – dass Autos unsere Innenstädte verpesten und Menschen bedrohen und gefährden dürfen – nur noch schlimmer gemacht. Jeden Tag hatte man Angst um seine Gesundheit, allein schon, weil man zu übersäuern schien. Die Stargarder, die ein Hort des Friedens und ein Blick in eine himmlische Verkehrszukunft sein sollte, war eine Sauna von Angst und Aggression.
Und dann. Neulich. Bäm!
Morgens waren ein paar Hütchen über der Straße verteilt, an der Gethsemanekirche, vorm Friseur. Abends dann, als ich vorsichtig hineinradelte in die Stargarder, sah ich sie: Drei. Rotweiße. Poller!
Es war ein Moment, als würde das Kriegsende ausgerufen, als wäre Jesus strahlenbekränzt am Himmel erschienen oder gar: als wäre der VfB Lübeck in die Bundesliga aufgestiegen. Es war unwirklich. Noch ehe das Gehirn begriffen hatte, hatten sämtliche Euphoriedrüsen ihr Zeugs ausgeschüttet und mein Bewusstsein geflutet. Poller! Freakende Poller! Der Anfang ist nah!!!
Sie werden das jetzt für übertriebene Poesie halten, aber ich verbrachte die nächsten Abende ebendort, vorm Friseur, mit Blick auf die Gethsemanekirche, dem Hort der friedlichen Revolution.
Es war das Glück. Das pure Glück auf Erden. Sie kamen angerollt, von rechts, von links. Sie trauten ihren Autofahreraugen nicht: Wie? Was? Wir brummend Stinkenden haben doch das Recht, uns die ganze Erde untertan zu machen! Wir würden ja auch die Treppe hoch und bis ins Wohnzimmer fahren mit unserer Pestbeule!
Aber nichts da. Ich zündete mir eine an. Dabei rauche ich gar nicht. Ich grinste. Poppte mir ein Bier auf. Die Autofahr-Idiotinnen und -Idioten rammelten sich zu kleinen, beidseitigen Staus zusammen, sie versuchten zu drehen, standen einander im Weg, hupten sich an. Machten Augen wie Autos … Die Menschen aber blieben stehen. Lachten. Radfahrer johlten im Vorbeifahren oder stoppten kurz, um die Poller zu streicheln. Menschen machten Fotos von den Pollern, an denen Luftballonreste hingen, von spontan Feiernden festgemacht wohl und von wütenden irren Verbrenner-Hirnen zerstochen und zerfetzt, so vermute ich. Eltern zeigten ihren Kindern die Poller, wildfremde Fahrradfahrerinnen strahlten mich an. »Endlich!«, rief eine.
Ich kam am nächsten Tag wieder, ich kam am nächsten Abend wieder. Und auch heute und gestern und morgen ist mir kein Weg zu weit, um wenigstens ein-, zweimal am Tag durch die wackere Pollergarde zu fahren, schön langsam, jeden Meter genießend als Meile der Freiheit, den nächsten SUV-Deppen, der mir vorwurfsvoll entgegentuckert, fett angrinsend.
Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Dank der Unterstützung unserer Community können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen
Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.