Erwachsene Japaner lösen Windelboom aus

In dem schnell alternden Land setzt die Branche vermehrt auf Senioren anstatt auf kleine Kinder

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 3 Min.
Japan ist das erste Land, in dem mehr Geld mit Erwachsenenwindeln verdient wird als mit denen für Kinder. Die Branche boomt, auch weil im Gesundheitswesen gespart wird, in Europa droht Ähnliches.

Mao Dohi hat eine undankbare Aufgabe. Sie soll die Neuigkeiten ihres Arbeitgebers möglichst positiv der Öffentlichkeit präsentieren. Keine leichte Angelegenheit in einem Land, dessen Märkte seit 20 Jahren kaum gewachsen sind. Aber dem Unternehmen der PR-Frau ist es in den vergangenen Jahren ganz anders ergangen. Dohis Arbeitgeber Unicharm ist ein führender Hersteller von Windeln und konnte zuletzt einen Erfolg nach dem anderen verkünden. Senioren sind die besten Kunden.

Die wichtigsten Erfolge verzeichnet Unicharm in der Heimat. Im vergangenen Jahr wurde Japan das erste Land der Welt, in dem die Branche mehr Geld mit Erwachsenenwindeln verdiente als mit den Produkten für Kinder. Von einem »enormem Marktpotenzial« spricht Mao Dohi, als »Boommarkt« sehen Analysten das Geschäft seit langem. Das Marktforschungsunternehmen Euromonitor International geht für die kommenden drei Jahre von einem Absatzwachstum von 25 Prozent aus, das entspricht auch in etwa den Zunahmen der vergangenen Jahre.

Fast ein Viertel der japanischen Bevölkerung ist schon heute 65 Jahre oder älter. In keinem anderen Land der Welt schreitet der Alterungsprozess, der durch eine niedrige Säuglingssterblichkeit und eine hohe Lebenserwartung getrieben wird, derart schnell voran. In den nächsten 40 Jahren soll der Anteil der alten Menschen auf 40 Prozent anwachsen. Schon heute wird ein Japaner im Schnitt 82,8 Jahre alt, und die Bevölkerung schrumpfte allein zwischen 2005 und 2012 durch eine geringe Geburtenrate von einst 127,5 Millionen Einwohner um fast eine ganze Million Menschen.

Mit der wachsenden Kundengruppe der Senioren erzielt Unicharm, und seit 2014 auch deren inländischer Konkurrent Daio Paper, seine Haupterlöse. Mit einem Umsatz von rund 200 Milliarden Yen (1,4 Milliarden Euro) pro Jahr ist Japan weltweit der größte Markt für Erwachsenenwindeln. Der Umsatz macht einen Viertel des Weltmarktes aus. In die Erforschung der besten Materialien fließt derzeit ein Großteil der Investitionen, künftig werden auch Werbeausgaben wichtig sein.

»Wir waren die Ersten, die Windeln und Einlagen in einem hergestellt haben, sowie solche, die man selber hoch- und runterziehen kann«, sagt Mao Dohi. Diese Innovationen haben Unicharm zum Marktführer in Asien und zur Nummer drei weltweit gemacht. »Bisher wächst auch der Markt für Babywindeln«, sagt Dohi. »Aber langfristig schauen wir sehr genau auf das Erwachsenengeschäft.«

Eine Entwicklung, die sich zumindest im Land von Unicharm und Daio Paper lange abgezeichnet hat. Japans Babyboom, der nach dem Zweiten Weltkrieg viele damals wirtschaftliche florierende Nationen ereilte, war kurzlebiger als anderswo.

In Japan gibt es aber noch einen Grund für den Erfolg der Alterswindeln. Vor zwei Jahren verabschiedete das Parlament eine Gesundheitsreform, die unter anderem vorsieht, dass pflegebedürftige Menschen ihre meisten Behandlungen zuhause statt im Krankenhaus erhalten. Sonst würden die Kosten für den bereits hoch verschuldeten Staat noch weiter ansteigen, so das Argument. Im selben Jahr nahmen die Umsätze von Windeln für »leichte Inkontinenz« gleich um ein Zehntel zu, der private Konsum begann zu brummen.

Laut Ian Bell, Analyst von Euromonitor International, könnte dies auch auf Europa zukommen. »In einem Zeitalter der Sparpolitik, wenn die Gesundheitsversorgung mehr und mehr auf Konsumenten abgewälzt wird, bietet Japan einen interessanten Blick in die Zukunft.« Ohnehin folgt Europas demografische Entwicklung dem japanischen Weg.

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