Werbung

Wenn Strom tiefgekühlt wird

Neuer Rekord: Unter Extrembedingungen setzt Supraleitung schon bei minus 83 Grad Celsius ein

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Supraleiter sind Materialien, die ihren elektrischen Widerstand verlieren, wenn sie auf eine bestimmte Temperatur abgekühlt werden. Quecksilber zum Beispiel geht bei einer Sprungtemperatur von 4,15 K (-269° C) in den supraleitenden Zustand über. Entdeckt wurde dieses merkwürdige Naturphänomen 1911 von dem niederländischen Physiker Heike Kamerlingh Onnes, der für seine Versuche flüssiges Helium verwendet hatte, um Quecksilber bis auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt (-273,15° C) abzukühlen. Wenig später konnte er nachweisen, dass auch Blei supraleitend wird, wenn man es auf etwa 7 K (-266° C) abkühlt.

Zunächst schien es so, als sei das Auftreten der Supraleitung auf extrem niedrige Temperaturen beschränkt. Und obwohl es Kamerlingh Onnes bereits 1913 gelungen war, in einem supraleitenden Bleikabel einen Ringstrom zu starten, der nach dem Abschalten der Batterie lange weiterfloss, glaubte kaum jemand an die Möglichkeit einer praktischen Nutzung der Supraleitung.

Daran sollte sich in den nächsten Jahrzehnten wenig ändern. Und das, obwohl Physiker feststellten, dass neben Metallen auch Metallverbindungen die Eigenschaft der Supraleitfähigkeit besitzen, die zudem häufig bei einer relativ hohen Sprungtemperatur einsetzt. So wird die Niob-Germanium-Verbindung Nb3Ge bereits bei rund 23 K (-250° C) supraleitend. Aber auch für die Erzeugung dieser Temperatur benötigt man immer noch flüssiges Helium. Und dessen Herstellung ist technisch so aufwendig und teuer, dass eine rentable großflächige Nutzung der Supraleitung seinerzeit illusorisch schien.

Neue Hoffnung gab es, als die Züricher IBM-Forscher Georg Bednorz und Alex Müller 1986 auf ein Lanthan-Barium-Kupferoxid stießen, das bei 35 K (-238° C) supraleitend wird. Tatsächlich führte die danach einsetzende fieberhafte Suche nach weiteren Hochtemperatur-Supraleitern zur Entdeckung von Kupraten, keramischen Kupferoxid-Verbindungen, deren Sprungtemperatur oberhalb der magischen Grenze von 77 K (-196° C) liegt. Denn ab dieser Temperatur kann man das Material kostengünstig mit flüssigem Stickstoff kühlen. Allerdings gibt es hier ein Problem: Die Kuprate sind sehr spröde und lassen sich daher nur schwer zu Kabeln verarbeiten.

Den Rekord bei den keramischen Hochtemperatur-Supraleitern hält derzeit mit 138 K (-135° C) eine Verbindung namens Quecksilberkuprat. Jedoch gilt dieser Wert für Standarddruck. Wird der Druck stark erhöht, lassen sich bei keramischen Supraleitern auch höhere Sprungtemperaturen erreichen.

Supraleiter kommen heute vor allem in den Magnetspulen von Teilchenbeschleunigern zum Einsatz. Aber auch in der Medizintechnik werden sie benötigt, zum Beispiel in Kernspintomografen und empfindlichen Magnetometern, mit denen sich kleinste Magnetfelder zum Zwecke der Hirn- und Herzdiagnose messen lassen. In Essen ist seit April 2014 ein supraleitendes Kabel in Betrieb, das auf rund einem Kilometer Länge zwei 10-Kilovolt-Umspannstationen verbindet. Daran angeschlossen sind zahlreiche Verbraucher. Obwohl es bisher nur wenige solcher Projekte gibt, ist der Berliner Laserphysiker Wolfgang Sandner überzeugt: »Wenn es der Forschung gelingt, robuste Hochtemperatur-Supraleiter zu entwickeln, werden sie viele Bereich der Technik und des alltäglichen Lebens revolutionieren.« Der große Traum vieler Physiker besteht deshalb darin, Materialien zu finden, die schon bei Raumtemperatur supraleitend werden.

Einen wichtigen Schritt auf diesem Weg haben jetzt drei Wissenschaftler des Mainzer Max-Planck-Instituts für Chemie getan. Aber nicht für eine keramische Verbindung interessierten sich Mikhail Eremets und seine Kollegen, sondern für Schwefelwasserstoff (H2S), ein farbloses Gas, das nach faulen Eier riecht und schon in geringer Konzentration tödlich wirkt. Der Grund für dieses Interesse: Vor elf Jahren hatte der US-Physiker Neil Ashcroft ein Modell entwickelt, wonach Wasserstoff und dessen Verbindungen unter hohem Druck supraleitend werden. Folgt man der Theorie der konventionellen Supraleitung, dann vereinigen sich die ansonsten freien Elektronen in Metallen bei Unterschreiten der Sprungtemperatur zu sogenannten Cooper-Paaren, die sich aufgrund ihrer Quanteneigenschaften reibungsfrei durch das Metallgitter bewegen. Bei Wasserstoffverbindungen, so legt Ashcrofts Modell nahe, werden durch den Druck jene Bedingungen erzeugt, die den Elektronen auch bei relativ hohen Temperaturen eine widerstandsfreie Paarbewegung erlauben.

Eremets und seine Kollegen haben dies nun im Experiment überprüft. Sie gossen flüssigen Schwefelwasserstoff in eine mit elektrischen Sensoren ausgestattete Zelle und erhöhten darin systematisch den Druck bis auf Werte, wie sie im Erdkern herrschen. Dann senkten sie für jeden Druckwert die Temperatur und bestimmten den elektrischen Widerstand der H2S-Probe. Bei einem Druck von über 150 Gigapascal ging die Probe bei 190 K (-83° C) in den supraleitenden Zustand über. Das wäre ein neuer Weltrekord für die Sprungtemperatur!

Die Ergebnisse ihres Experiments haben die Forscher auf dem Pre-Print-Server »arXiv.org« (arxiv.org/ abs/1412.0460v1) veröffentlicht. Das heißt, der Artikel hat noch nicht den in der Wissenschaft üblichen Peer-Review-Prozess durchlaufen; er muss vielmehr noch offiziell begutachtet werden. Gleichwohl hat bereits die Vorab-Publikation in der Fachwelt für Furore gesorgt. »Sollten sich die Resultate bestätigen, wäre das eine historische Entdeckung«, sagt Robert Cava, Festkörperchemiker an der Princeton University. Er und andere Forscher weisen aber zugleich darauf hin, dass es von einem Durchbruch in der Grundlagenforschung bis zur technischen Anwendung oft ein langer Weg ist.

Natürlich wissen auch Eremets und seine Kollegen, dass giftiger Schwefelwasserstoff unter Hochdruck nicht unbedingt die beste Wahl für den technischen Einsatz ist. Sie begreifen ihr Experiment deshalb vor allem als Ermutigung, nach anderen supraleitenden Wasserstoffverbindungen zu suchen. »H2S ist eine Substanz mit einem relativ geringen Wasserstoffgehalt, deshalb kann man hohe Sprungtemperaturen bei einer Vielzahl von anderen wasserstoffhaltigen Substanzen erwarten«, schreiben die Forscher und nennen als Beispiele hierfür aromatische Kohlenwasserstoffe, fußballförmige Fullerene sowie mit Wasserstoffatomen bestückte Graphenschichten.

Zunächst jedoch müssen die neuen Daten zur Supraleitung von anderen Forscherteams bestätigt werden. Denn wie ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte lehrt, hat sich so manche spektakuläre, experimentell gewonnene Erkenntnis bei näherer Betrachtung als Flop erwiesen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal