Zombies Zukunft

Sebastian Baumgarten inszenierte am Berliner Gorki-Theater Heiner Müllers »Zement«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor bald 20 Jahren starb Heiner Müller. Das Jahrhundert, an dem er sich abgearbeitet hatte, war schon einige Jahre zuvor an ein Ende gekommen, nicht kalendarisch, aber politisch - und mit ihm die Grundlage für die Entstehung von Müllers Werken. »Solange sein Leben in der Verlangsamung des DDR-Alltags und der Verhinderung seiner Arbeit verlief«, schreibt der Regisseur Sebastian Baumgarten in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift »Theater heute«, die Müller einen Schwerpunkt widmet, »gab es für ihn zwangsläufig genug Zeit zur genauen Reflexion«. Mit den 1989 sich durchsetzenden Veränderungen aber sei eine Beschleunigung des Alltags einhergegangen, die auch den Künstler erfasste. »Seine eigene Mitarbeit an dem sich immer schneller entwickelnden politischen Prozess überholte Müllers Schreibarbeit. Nun fehlte die Zeit zur Reflexion.« Statt weiter Dramen zu schreiben, die über den Weg in die Steinbrüche der Geschichte Zukunft denkbar machen sollten, übernahm der Künstler repräsentative Ämter und führte öffentliche Gespräche. »Diese Dokumente«, schreibt Baumgarten, »waren die neuen Müllerstücke. Der Versuch, im Interview der Sprachlosigkeit zu entkommen.«

Am Berliner Gorki-Theater hat Sebastian Baumgarten jetzt Heiner Müllers »Zement« inszeniert, ein auf Fjodor Gladkows 1925 erstveröffentlichtem Revolutionsroman basierendes Stück, das 1972 entstanden und 1973 von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble uraufgeführt worden ist. Das karge Bühnenbild (Hartmut Meyer), das zunächst aus nichts anderem als zementgrauen Wänden besteht, vor denen auf einer großen Leinwand die Worte »ZEMENT« und »Heiner Müller« geschrieben stehen, dämmert noch im Stimmengewirr der Theatergäste, als von der Seite ein Herr in Schwarz die Bühne betritt, ein paar Blatt Papier und eine Brille in den Händen. Es könnte ein Bühnenarbeiter sein, der eine technische Störung mitzuteilen hat oder ein Dramaturg, der den krankheitsbedingten Ausfall der Vorstellung bekanntgeben muss. Monoton und seelenruhig rezitiert der Mann stattdessen - Prolog zum Stück - einen autobiografischen Müllertext aus der Nachwendezeit, vielleicht aus einem der Interviews.

Dem Sozialismus, heißt es da, sei die Zukunft bereits zu dem Zeitpunkt verlorengegangen, da er sich von seiner Geschichte losgelöst habe und nur noch als Bürokratie, als Statistik, als Text in Erscheinung trat. Von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist die Rede und davon, dass Müllers Arbeit an diese Katastrophen gebunden gewesen sei. Nur einmal zuckt der Herr im schwarzen Pullover aus seiner verstockten Pose. Ruckartig reißt er den Arm nach vorn und lässt drohend den Zeigefinger gegen das Publikum schnellen, als wolle er Löcher in die Folie einer sich unangreifbar dünkenden Gegenwart pieken. Der Satz, den er zu dieser komischen Geste spricht: »Die Geschichte der Bundesrepublik ist noch nicht geschrieben.«

Man muss sich schon fragen, warum ein Theater, das sich radikal der an bühnentauglichen Widersprüchen nicht armen Gegenwart verschrieben hat, ausgerechnet einem Stück wie »Zement« zuwendet, dessen Sujet so endgültig abgeschlossen scheint. »Die Beschreibung und Analyse der Konfliktzonen dieser Stadt und dieser Gesellschaft, das ist unsere Arbeit hier«, sagte Intendantin Shermin Laghoff, die das Haus seit 2013/14 zusammen mit Jens Hillje neu konzipiert und gleich zum Titel »Theater des Jahres« geführt hat, kürzlich in einem Interview mit der »Berliner Zeitung«. Man mache »hier am Gorki ganz klar neues deutsches Theater des postmigrantischen, also des von Migranten mitgeprägten Deutschlands«. Und tatsächlich liest sich der Besetzungszettel der »Zement«-Inszenierung ähnlich wie die Aufstellung der deutschen Fußballnationalmannschaft: Matea Meded, Aram Tafreshian, Falilou Seck, Cynthia Micas, Aleksandar Radenkovic, Thomas Wodianka, Sesede Terziyan, Peter Jordan. Aber Müllers »Zement«, dieser im Spannungsfeld zwischen Kriegsökonomie und Lenins Neuer Ökonomischer Politik schier zerreißende, mit mythologischen Analogien durchwobene Stoff, der in das postrevolutionäre, bürgerkriegszerrüttete Sowjetrussland der Jahre 1920/21 und in die aufgerissenen Seelen (und Körper!) von dessen hungernden Bewohnern führt, welche Relevanz hat der für ein Heute, das kaum damit hinterherkommt, sich mit sich selbst zu beschäftigen?

»Unser Alltag ist besetzt mit gegenwärtigen Phänomenen«, schreibt Baumgarten in »Theater heute«, »deren Undurchschaubarkeit den Blick auf die Geschichte scheinbar irrelevant machen«. Das nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus vielbeschworene »Ende der Geschichte« kommt einem in den Sinn, wenn man so einen Satz liest, und der Gedanke, dass dieses »Ende« im vernebelten Bewusstsein einer Gesellschaft, die unterm Diktat der totalen Gegenwärtigkeit lebt, nicht nur bedeutet, dass Geschichte nicht weitergeht, sondern auch, dass sie niemals stattgefunden hat. Ist der Preis, den wir für die Aufputschdroge Freiheit zahlen, die Amnesie?

In besagtem Interview mit Shermin Langhoff lobt Interviewer Arno Widmann die brandaktuellen Gegenwartsstücke am Gorki, tadelt aber die »missglückten« Inszenierungen gestandener Werke wie Tschechows »Kirschgarten« oder Volker Brauns »Übergangsgesellschaft«. Dabei, entgegnet die Intendantin, sei die Ambition in beiden Fällen dieselbe: uns Heutige infrage zu stellen. Der Zustand der permanenten Krise, in dem wir uns gegenwärtig befänden, ließe sich ohne weiteres als »Übergangsgesellschaft« in Volker Brauns Sinne beschreiben, sagt Langhoff. »Wir wollten es (Brauns Stück) befragen, um unsere Gegenwart zu entziffern.« Derselbe Impuls scheint auch dem Auftrag an Baumgarten zugrunde zu liegen, Müllers »Zement« neu anzurühren, das ebenfalls von einer Gesellschaft im Übergang handelt. Und der Regisseur hätte ihn nicht angenommen, hielte er es nicht wenigstens für möglich, dass die »aus der Entschleunigung des Rückblicks gewonnene metaphorische Schwerkraft« von Müllers Text »mitten im Theater der Beschleunigung … noch eine Kraft entwickeln (kann), die mehr ist als ein Heiner-Denkmal«.

Von einer Theaterkritik darf erwartet werden, dass sie den Blick nicht auf Papier richtet, sondern auf die Bühne. Meine ausschweifende Vorrede ist aber der Befürchtung geschuldet, dass eine bloße Beschreibung dessen, was Baumgarten in seiner ironischen, poppigen Trash-Inszenierung auf die Bühne zaubert, darüber hinwegtäuschen könnte, was damit beabsichtigt war. Die Schauspieler jedenfalls vollbringen artistische Höchstleistungen und brüllen, krächzen, flüstern sich die Seelen aus dem Leibe, der obenrum nackt ist, was man auf den ersten Blick aber gar nicht bemerkt, weil die Kleider, an denen es mangelt, auf die Haut gemalt sind. Der Kriegsheimkehrer Gleb Tschumalow (Peter Jordan) beispielsweise trägt ein Oberhemd im Rot der Bolschewiki, das allerdings im blut- und schweißrünstigen Stückverlauf beinahe vollständig von seiner Brust gewaschen wird.

Hervorzuheben ist das existenzielle Spiel der großartigen Sesede Terziyan, die Tschumalows revolutionsverhärmte Gattin Dascha, die ihren zurückkehrenden Mann nicht mehr beim Namen nennt, sondern »Genosse«, mit solch zäher Wucht spielt, dass man ihre Faust selbst als unbeteiligter Zuschauer in der neunten Reihe noch fürchtet. Bemerkenswert auch der irre Techno- und Kosaken-Stepptanz von Thomas Wodianka, der einem Klaus Kinski in seiner zwischen Angst und Exzess immer ins Extreme ausschlagende Überdrehtheit als Revolutionskommissar Badjin in nichts nachsteht. Technisch ist die Inszenierung perfekt, die eingebetteten Videos (Jana Findeklee, Joki Tewes) kommen auf den Punkt, die dem Text dienende Musik und Geräuscharchitektur (Andrew Pekler) ist ausgefeilt bis ins Detail. Als beeindruckende Requisiten wären eine Riesenmüllschaufel zu nennen, mit der Tscheka-Papiere herangeschafft und die Bücher der Intelligenzija entsorgt werden, sowie eine sicherlich zweieinhalb Meter lange Kalaschnikow, mit der sehr lautstark herumgeballert wird, obwohl sie bloß aus Pappe ist.

Gleich hinter der Bühnenrampe klafft ein mit Brettern notdürftig überbrücktes großes, eckiges Loch, das eine Fallgrube sein könnte oder ein Grab. Dies ist der Ort, aus dem die Figuren kommen, und in den sie wieder gehen werden. Denn die Menschen, die wir hier handeln sehen in der unumkehrbaren Notwendigkeit, die neue Zeit zu schaffen (und den neuen Menschen!), zeigt Baumgarten uns - als Zombies. »Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist«, hat Müller einmal gesagt. Baumgarten gönnt diesen verlorenen Seelen nun also ihre letzte Ruhe nicht und hetzt sie furios über die Bühne. Aber das Einzige, was sie preisgeben, ist die Erinnerung an die Tatsache, dass ihre Zukunft unsere Gegenwart ist. Die Früchte, die wir heute ernten, sind mit ihrem Blut gedüngt.

Nächste Vorstellung: 26.1.

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