Hilfe! Hochbegabte Kinder!

Die Bildungscamps in Südthüringen erleben große Nachfrage - ihre Gründer stützten sich auf DDR-Erfahrungen

  • Danuta Schmidt, Zella-Mehlis
  • Lesedauer: 6 Min.
Begabtenförderung war in den ersten Jahren nach 1990 nicht gerade ein Hauptanliegen der Bildungspolitik im Osten. In Thüringen entorganisierten Enthusiasten mit den Bildungscamps ein Unikat.

Integration und Inklusion werden in Deutschlands Bildungs- und Sozialpolitik sehr groß geschrieben, die Begabten-Förderung ist eher eine Randthema. In Schweden und Finnland gehört die Förderung von Talenten bereits zur inklusiven Bildungslandschaft. In Deutschland bleibt sie oft in privaten, dafür sehr engagierten Händen - zum Beispiel in Südthüringen.

Noch bis Ende Januar 2015 läuft die Frist, um sein Kind für eines der Bildungscamps anzumelden, die ab April in Christes und Zella-Mehlis veranstaltet werden - nun schon im 17. Jahr. Diese Camps sind Weiterbildungsangebote für Schüler zwischen 6 und 15 Jahren, vornehmlich in Mathematik und den Naturwissenschaften, zunehmend aber auch in sprachlichen und kreativen Fächern. Eines der beliebtesten ist das Camp zum Thema »Roboter bauen«. Eine Woche lang lernen Kinder während der Schulzeit an einem anderen Lernort, umgeben von anderen, fremden und in jedem Fall auch leistungsstarken Kindern, eigene Ideen zu entwickeln, Wege der Erkenntnis zu finden und sich miteinander auszutauschen. Das ist eine Kompaktwoche lang Stärkung der Persönlichkeit auf allen Gebieten, mit Essen und Übernachtung.

»Für manches begabte Kind ist es hier am Anfang gar nicht so leicht«, sagt die Pädagogin Heike Wilhelm. »Es kommt von Zuhause, oft überbehütet und mit dem ›Ich bin besonders‹-Status versehen. Plötzlich muss es feststellen, dass es hier auch andere Pfiffikusse gibt.« Es sei da schon so manche Träne der persönlichen Erkenntnis geflossen.

Soziale Kompetenzen, humanistisches Wertepotenzial - das gehört im Camp ganz spielerisch dazu. Hier erlernt das Kind die Fähigkeit, auch einmal zu scheitern, natürlich auf sehr hohem Niveau. Und es erfährt vielleicht schon, dass Scheitern für die Entwicklung positiv sein kann.

1996 gründete der Weimarer Diplompsychologe Josef Nyari gemeinsam mit Heike Wilhelm und ehemaligen Schulleitern von Spezialschulen, die es zu DDR-Zeiten in Erfurt, Ilmenau und Jena gab, die »Thüringer Gesellschaft für das hochbegabte Kind«. Ein Jahr später erfanden Wilhelm, ihr Mann Uwe Heimrich und Matthias Büttner (heute Vorsitzender) das Bildungscamp in Thüringen. Es ist das einzige in Deutschland, 1997 fand es im Sommer zum ersten Mal statt. Da war die PISA-Studie noch weit entfernt.

Auch 14 Jahre nach der ersten PISA-Studie sind es vor allem betroffene Eltern, die sich Initiativen und Vereinen anschließen, um den begabten Nachwuchs zu fördern. In Berlin war das so und auch in Thüringen. »Unser Sohn«, erzählt Heike Wilhelm, »konnte bereits mit vier Jahren lesen und ich suchte nach einer Förderung für ihn, die ich damals nicht fand.«

Erste Erfahrungen mit besonders begabten Kindern sammelte die Mathematik- und Physiklehrerin Wilhelm in ihrer Arbeit als Lehrerin an einer Dorfschule in Schwarza. »Mir fiel auf, dass es unter den Kindern sehr intelligente Schüler gab, die schlechte Noten hatten. Sie waren gute Denker, aber ihre Pflichtaufgaben haben sie nur ungenügend erfüllt.« Auch zwei Kinder aus dem nahe liegenden Kinderheim seien an ihren schlechten Noten und ihrem Verhalten gescheitert, hatten aber gute Ideen für Wege in der Mathematik. »Sie konnten Strategien entwickeln, neu denken.«

Heike Wilhelm sah das intellektuelle Potenzial, aber noch keine gute Methode, um diese Schüler optimal zu unterrichten. Doch ihre Begeisterung für kreative Kinder hielt an. Sie gehörte auch zu den Lehrern, die sich für die Weiterentwicklung der Jenaplan-Schule 1996 in Suhl stark machten. Seither ist sie dort Lehrerin und betreut zudem den hauseigenen Schachkurs.

Die Gründer des Camps stützten sich vor allem auf Erfahrungen aus DDR-Zeiten, auf Unterrichtsmaterial oder Unterlagen aus Mathematik-Olympiaden - und sie nutzten die Kompetenzen der Lehrer von damals. »Es gab eine gute Begabten-Förderung durch die Spezialschulen. Aus ihnen sind viele heutige Experten hervorgegangen. Doch kurz nach der Wende war das ›Elite‹-Thema ein Tabu. Erst mit der ersten PISA-Studie wurde unsere Idee plötzlich salonfähig. Bis dahin waren wir nur ein Haufen Interessierter.«

Heike Wilhelm erinnert sich genau: »Anfang der Neunziger hatten wir die Zeit der Kuschelecken an den Schulen. Die Schüler sollten entspannen, sich in den ›Snoozel-Räumen‹ ausruhen. Und da kamen wir mit unserer Idee, die erst einmal nur nach Forderung, nach Anspruch, nach Pflicht klang.«

Mittlerweile gibt es viel Anerkennung, auch aus dem deutschsprachigen Ausland. Und es gibt finanzielle Unterstützung vom Thüringer Kultusministerium für die Durchführung des Unterrichts. Auf die Bildungspolitik der neuen rot-rot-grünen Landesregierung ist Heike Wilhelm sehr gespannt: »Es ist eine Gratwanderung: Auf der einen Seite gibt es diese guten Erfahrungen aus der DDR-Bildungsförderung. Auf der anderen Seite steht die Linke ja für soziale Gleichberechtigung und eben nicht für die geistige Elite-Herausbildung.«

Als das erste Bildungscamp in Christes stattfand, waren 30 Plätze zu vergeben. »Wir haben ganz profan und ganz privat Faxe an alle Schulen verschickt, die wir in den Telefonbüchern fanden.« Und dann wollten 500 Kinder kommen. »Wir waren nicht nur sehr überrascht, sondern auch total überfordert.«

Uwe Heimrich: »Das war für uns natürlich auch ein Zeichen, ein großer Ansporn, weiter zu machen.« Der Verein kaufte ein zweites Terrain und zwar ein ehemaliges Ferienlager-Grundstück bei Zella-Mehlis im Thüringer Wald. Es war alles total verfallen. »Aber mein Mann«, sagt Heike Wilhelm, »ist ein ›Anfänger‹. Er liebt es, Dinge zu beginnen und ist immer auf der Suche nach neuen Ideen.« In den nächsten fünf Jahren besorgte Uwe Heimrich, der zwei Ingenieurabschlüsse in der Tasche hat, Fenster aus dem Schützenhotel in Oberhof, Türen aus einem Plattenbau-Abriss und ersteigerte Lampen bei ebay.

Heike Wilhelm ist verantwortlich für die Inhalte der Camps und rekrutiert gute Lehrer für die Camps während der Schulzeit. Auch Theaterpädagogen, Informatiker, Museologen und Schauspieler unterrichten im Camp. Sie arbeiten weit unter dem üblichen Honorar, aber mit großem Einsatz. »Unsere Lehrer sind hier total aufgeblüht. So hätten sie sich ihr Berufsleben vorgestellt, sagen sie, dass sie das noch einmal erleben dürften ... Das war für viele unfassbar: Die Kinder seien richtige Cracks, die bohren, bis sie der Sache auf den Grund gekommen seien. Sie schielten nicht nach der Uhr wie in der Schule.«

Und auch bei den Kindern prägten sich die Erlebnisse und Erfahrungen ein: Ehemalige Schüler sind heute Betreuer und sogar Lehrer. Sie kamen als Sechsjährige und wurden zu Wiederholungstätern. Der zehnjährige Paul Kegeler aus Trebra war schon zweimal beim »Roboter bauen« dabei. Hier kann er seinem Forscherdrang nachgeben, der in der Schule zu kurz kommt.

Enthusiasmus, Zuversicht und Mut wurden belohnt: Seit 2007 gibt es 20 Camps pro Jahr. »Ein Vater sagte einmal, es sei schwieriger, in das Camp zu kommen, als einen Trabi zu kriegen«, erinnert sich Uwe Heimrich. Etwa 15 000 Kinder aus allen Bundesländern wurden bisher erreicht. Seit 2002 gibt es auch zweiwöchige Feriencamps zu konkreten Themen. Zwei bis drei Stunden werden diesen Themen täglich gewidmet, ansonsten wird gespielt.

Informationen im Internet unter: www.bildungscamp.de

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