Berlin? Einfach nur ein ödes Kaff!

Erst superhip, dann superspießig - ist der Hauptstadt-Hype vorbei?

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 3 Min.
Hundeverbot am See, strengere Regeln für Kiffer, Reservierungszwang in Bars. So locker wie früher geht es in Berlin nicht mehr zu.

Wir befinden uns im Jahr 2022, es ist Sonntagmorgen und draußen sehr trüb, so wie jetzt. Ein paar wenige Clubs gibt es noch in der Stadt, sie öffnen gerade für knapp zwei Stunden, von neun Uhr dreißig bis elf Uhr zwanzig, für den »Kick-In-Yoga-Sunday«. Entspannen ist das neue Feiern, so das Motto. Partys, bewusstseinserweiternde Substanzen, Untergrund, Szene, Alternativkultur, alles wird mittlerweile mindestens gesellschaftlich verpönt oder wurde gleich ganz abgeschafft. Generation 25 plus steht in holzvertäfelten - Massivholzeiche dunkel - Küchen, die Schubladen voll mit Hand-, Stab-, Standmixer, Organisationstalent und Koch-Blog, in Prenzlauer Berg. Die Dame mit Schürzchen, der Herr im feinen Zwirn, selbstgehäkelt - do it yourself! Herr und Dame, verheiratet - romantische Zweierbeziehung for ever -, er bügelt Unterhosen und sein Selbstbewusstsein, sie kommt gerade von der Brezelmanufaktur zurück, gleich wollen sie Scharade spielen, bald eine Tierpatenschaft in Sambia übernehmen, nachher noch joggen, ein paar Leinsamen pürieren oder einfach nur die Stille der bürgerlichen Spießigkeit genießen.

Hier endet das gedankliche Experiment. Das, glaubt man den Berichten, gar nicht mehr so weit an der Realität vorbei gedacht ist. Wo früher Clubs, kreative Räume, Lärm, lauter Spaß waren, sind heute Café-Latte-Läden, Kitas oder Katzencafés. Das Clubsterben in Berlin ist Fakt, auch die Drogenproblematik im Görlitzer Park, selbst genervte Latte-Mamis aus dem Spießerauffangbecken Nummer eins - siehe oben - sowie eine neue Reservierungspolitik in Restaurants und Regeln fürs Gassi gehen scheinen so gut wie gesichert. Aber wird Berlin deshalb wirklich gleich zur spießigen Vorstadt? Zur ödesten aller Ödnisse? Zumindest gibt es neue Verbote und Etiketten. Und da die schon beim Essen losgehen, muss es sehr ernst sein.

Wer in Berlin in ein Restaurant will, muss gut planen. Beim Sternekoch oder im angesagtesten Laden der Stadt reservieren: logisch. Aber mittlerweile stehen die Leute auch beim Mexikaner in Kreuzberg in der Schlange, erzählt man sich.

»Wenn ich Essen gehen will mit Freunden, rufe ich auf jeden Fall vorher an und frage, ob es ein Plätzchen gibt«, sagt Robin Schellenberg (30). Er ist einer der Betreiber des Neuköllner Restaurants »Fuchs & Elster«. Ziemlich hip und bietet ebenfalls Reservierungen an. Hier trifft sich heute das junge, weiße, studierende Hipstervolk.

Es wird voller in Berlin, die Hauptstadt wächst. Der Ruf zieht. Der Hype ist noch nicht vorbei, sagen die einen. Berlin schon längst tot, die anderen. Ist die Karawane jetzt schon weiter gezogen Richtung Leipzig oder Warschau? Wenn man dem Stadtmagazin »Tip« glaubt, ist »Berlin Europas Sex-Hauptstadt«. Zumindest scheint in den Betten die Spießigkeit also noch nicht eingekehrt zu sein. Im Gorki-Theater gibt Regisseurin Yael Ronen in »Erotic Crisis« wiederum eine nüchterne Antwort: Paare und Singles stecken in der Sex-Krise. Nicht nur im Liebesleben, auch sonst wollen unter den 3,5 Millionen Menschen in Berlin viele Fronten geklärt werden.

Hundebesitzer beschweren sich, dass sie künftig ihre Tiere nicht mehr an die Badestellen vom Schlachtensee mitnehmen sollen. Im Görlitzer Park gibt’s kein Hasch mehr. Der große Aufschrei blieb jedoch bisher aus.

Studenten der Universität der Künste haben sich einen »Salon der Spießigkeit« ausgedacht. Es ging um die »Neo-Spießigkeit« der heutigen »Generation Y«. Der Salon ist natürlich ein bisschen selbstironisch gemeint. Teilnehmerin Anni Kralisch-Pehlke (31) sagt: »Es ist toll, verheiratet zu sein, Sonntag morgens vor zehn schon einen Spaziergang gemacht zu haben, um dann mit Croissant und Biathlon auf der Couch rumzuhängen und sich einfach wohlzufühlen.«

Ist Berlin denn jetzt out, oder immer noch hip? So genau kann das gerade keiner sagen. Die Hauptstadt selbst sieht's gelassen, »Arm aber sexy« und macht einfach weiter wie bisher. Mit dpa

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