Ein Jahr Katastrophe in Berlin

CDU und SPD regieren die Hauptstadt in bester Laune – aber ihre Liaison ist keineswegs das Beste für die Bevölkerung

Eigentlich wenig Grund zur Zufriedenheit. Aber mit dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) an ihrer rechten Seite kann Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) besser als mit der Linken und den Grünen.
Eigentlich wenig Grund zur Zufriedenheit. Aber mit dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) an ihrer rechten Seite kann Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) besser als mit der Linken und den Grünen.

Als Heranwachsender wollte CDU-Politiker Kai Wegner Fußballprofi werden oder Pilot oder Polizist – oder Bauarbeiter wie sein Vater. Das hat Wegner am Donnerstag Fünftklässlern der Allegro-Grundschule verraten. Schon lange erwachsen, träumte er dann seit einigen Jahren, Regierender Bürgermeister von Berlin zu werden. Doch bei der Abgeordnetenhauswahl 2021 reichte es dafür noch nicht. Mit ihm als Spitzenkandidat holte die CDU nur 18 Prozent der Stimmen und landete 3,4 Prozentpunkte hinter der SPD und 0,9 Prozentpunkte hinter den Grünen.

Erst als die Wahl wegen zahlreicher Pannen im Februar 2023 wiederholt werden musste, gelang der Partei des gelernten Versicherungskaufmanns mit 28,2 Prozent ein klarer Sieg mit 9,8 Prozentpunkten Vorsprung auf SPD und Grüne. Es hätte dennoch für die Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition gereicht. Doch die SPD entschied sich nun anders. Franziska Giffey nahm mit dem Posten der Wirtschaftssenatorin vorlieb und machte für Wegner vor einem Jahr ihren Schreibtisch im Roten Rathaus frei. Am 27. April 2023 wurde Wegner Regierender Bürgermeister.

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Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD trägt die Überschrift: »Das Beste für Berlin«. Nicht weniger als das und einen Aufbruch für die Stadt haben die beiden Parteien der Bevölkerung vollmundig versprochen. Aber ist es wirklich das Beste für Berlin?

»Die Richtung stimmt«, ist Kai Wegner überzeugt. »Wir bleiben auf Kurs.« Auf zwei Seiten listete sein Presseamt echte und vermeintliche Erfolge auf, darunter die Öffnung der Friedrichstraße für den Autoverkehr und 100 zusätzliche Stellen für die Bürgerämter. In den Bürgerämtern ist aber immer noch schwer ein Termin für das Ausstellen eines Personalausweises und andere Anliegen zu bekommen. Dabei hätte es nicht nur Wegner selbst gern, wenn die Einwohner wie einst auch mal wieder spontan im Bürgeramt vorbeikommen könnten. Aber das bleibt ein Traum wie der von einer Karriere als Fußballprofi. Auch wenn der Regierende Bürgermeister jeden Morgen früh um sechs Uhr aufsteht, sieben Tage die Woche arbeitet und oft erst mitternachts nach Hause kommt – da hat der 51-Jährige bisher versagt wie vor ihm andere auch.

Schon als Erfolg abgerechnet wird, was nur ein frommer Wunsch ist: 2000 zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze bis Ende 2025. Um solche Ziele zu erreichen, sind schon genug warme Worte an die Wirtschaft gerichtet worden. Eine zielführende Maßnahme wäre eine Ausbildungsplatzumlage. Betriebe, die keine Lehrstellen anbieten, müssten eine Abgabe entrichten, mit der die Schaffung von Lehrstellen anderswo finanziert wird. Aber leider habe Schwarz-Rot die Ausbildungsplatzumlage »bis 2026 beerdigt«, beklagt die Linke-Landesvorsitzende Franziska Brychcy. Ihr zufolge finden Jugendliche in Berlin so schwer wie in keinem anderen Bundesland einen Ausbildungsplatz. »Ein Jahr Schwarz-Rot: Die Bilanz ist eine Katastrophe«, meint Maximilian Schirmer, der mit Brychcy die Doppelspitze der Berliner Linken bildet.

»Einfach mal machen«, das hatte Schwarz-Rot verheißen. Aber aktiv sei der Senat nur im Werfen von Nebelkerzen, kritisiert Bettina Jarasch. Sie war bis zum 27. April 2023 Mobilitätssenatorin, nun führt sie als Oppositionspolitikerin die Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. »Beim Mieterschutz passiert nichts und der Wohnungsbau ist faktisch zum Erliegen gekommen«, rügt Jarasch. »Statt sich um Projekte zu kümmern, bei denen gebaut werden könnte, wie auf dem ehemaligen Flughafen Tegel«, lenke die Koalition mit Debatten über eine Bebauung des Tempelhofer Feldes ab.» Tempelhof war auch mal ein Airport. Das Gelände als grüne Oase inmitten der Stadt freizuhalten, hatte 2014 ein Volksentscheid erzwungen.

Einen Grund für die mangelnde Durchsetzungskraft von Schwarz-Rot, die schon an Tag eins verspielt worden sei, hat Grünen-Landeschef Philmon Ghirmai ausgemacht: «Bis heute ist nicht klar, ob Wegner mit den Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde. Wer erst im dritten Wahlgang eine wacklige Mehrheit erlangt, hat auch wenig Rückhalt, um die notwendigen Veränderungen in Berlin wirksam anzugehen.»

Abseits der durchaus üblichen Selbstbeweihräucherung der Koalition und der keineswegs unüblichen Generalkritik der Opposition zieht Ursula Engelen-Kefer eine gemischte Bilanz. Die einstige Vizevorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes und jetzige Landesvorsitzende des Sozialverbands SoVD verbucht auf der Habenseite «die Fortführung des 29-Euro-Tickets und des 9-Euro-Sozialtickets gegen massive Widerstände vor allem aus Bayern und dem Nachbarland Brandenburg». Auch zeige Wegners Bundesratsinitiative für eine Reform der Schuldenbremse bei starken Gegenkräften in seiner Partei eine «beachtliche Zivilcourage». Andererseits mahnt Engelen-Kefer mehr sozialen Wohnungsbau an: Für viele Berliner «bis in die Mitte der Gesellschaft werden die steigenden Miet- und Mietnebenkosten immer mehr zu einem sozialen Problem». Die Unternehmensverbände zeigen sich derweil recht zufrieden, denn die jetzt Regierenden «haben ein offenes Ohr für die Wirtschaft», wie Hauptgeschäftsführer Alexander Schirp verrät. «Das war in den vergangenen Jahren nicht immer so.»

In der rot-grün-roten Koalition herrschte Dauerstreit. Bei Schwarz-Rot sei ein besserer Umgang miteinander zu spüren, glaubt Finanzsenator Stefan Evers (CDU). Dies kann ihm getrost bestätigt werden. Schlimmer wäre es auch kaum noch gegangen. Im Wahlkampf ist Kai Wegner nassforsch aufgetreten. Als Regierender Bürgermeister zeigt er sich inzwischen bei passender Gelegenheit staatsmännisch ausgewogen und glänzt mit charmanten Umgangsformen. Mit diesem neuen politischen Partner an ihrer rechten Seite harmoniert Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey um den Preis, dass kaum eine sozialdemokratische Handschrift zu erkennen ist. Die drohende Quittung offenbart eine Prognose des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap im Auftrag des Senders RBB. Demnach winken der CDU aktuell immerhin noch 27 Prozent, der SPD jedoch nur 15 Prozent. Zusammen hätten sie keine Mehrheit mehr.

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