E und U: sein A und O

Zum Tod von Reiner Süß

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer A sagt, muss auch B sagen. Klar. Des Weiteren kennen wir das A und O einer Sache. Kein Problem. Mit anderen Worten: Bestimmte Buchstaben unseres Alphabets wissen sich durchaus friedlich und sinnreich zueinander in Beziehung zu setzen. Aber Vorsicht! Deutsche Tradition ist auch ein kontaminiertes Gelände. Zum Beispiel das E, das für ernste Musik steht, und das U, das die Unterhaltungsmusik meint. Immer schon Frontgebiet, Feindlichkeit, Abgrenzung. Jedenfalls bei den erzharten Niveauwächtern; bei den Kritikastern, die das Überspringen von Rastern ein Laster nennen; bei den ästhetischen Schubladenhütern und rhetorischen Scharfschützen gegen jede weit gefächerte Ausdruckslust.

Der Opernsänger Reiner Süß aber breitete gleichsam seine Arme aus, in der einen Hand das E, in der anderen das U - dann beide Hände sich selber ans Herz gelegt: Über hundert Mal moderierte er von 1968 an die Fernsehsendung »Da liegt Musike drin«. Volkslied und Arie, Arie und Couplet, dann Schlager und erneut eine Arie. Und er inmitten: stets leutenah, ohne je tümlich zu sein. Mit großer Geste. Und sicherem Spürsinn für Wohlfühlweichheit. Vielleicht ein Bassistenkennzeichen. Wer A sagt, muss auch B sagen? Süß sagte: Anspruch - und meinte damit auch Bodenständigkeit. Das A und O seiner Kunst: die Vielfalt. Wozu übrigens gehörte, dass der Bühnenstar - in seinen sehr späten Jahren - mit ehrlicher Hingabe auch an sogenannten Provinztheatern sang.

1930 wird er in Chemnitz geboren und mit neun Jahren Mitglied des Leipziger Thomanerchores. Eine Jugend also mit Bach, »mit wunderbarer Klarheit«, sagt Süß später. Wunderbare Klarheit, also: Da ist die Welt, und da ist unser Leben, und wir tun in dieser Welt das Unsrige. Und zwar so, dass wir das Gefühl haben, wir könnten uns in dieser Welt, die doch so gar nicht auf Bergung und Bewahrung aus ist, bergen und bewahren können. Da muss Musik her! Musik verleiht solches Gefühl, nein, sie schenkt - mitteldeutscher Barock schwelgt geradezu im Schenken. Musik ist die reinste Ausdrucksantwort, für alles. Süß sagt: »Ich wollte früh der Mangelhaftigkeit entkommen.«

Er studiert Gesang, kommt 1959 über Bernburg und Halle an die Berliner Staatsoper. Erfolge auch an den Opernpalästen in Paris und Wien. Eine gediegene Laufbahn bis 1998. Ein Bass. Ein körperlebendiger Buffo. Zwischen falstaffschem Prunk und strenger Mächtigkeit, zwischen heiterer Fülle und raumgreifender Autorität. Er singt Wagner und Rossini, Strauss und Verdi, aber auch Dessau und Schostakowitsch. Avanciert zum Kammersänger. Die Fachwelt nennt ihn den »Bass mit hundert Varianten«. Variante 101: Anfang der neunziger Jahre zieht er für die Hellersdorfer SPD ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Ist eine deutlich tönende Stimme gegen Links.

Am 29. Januar, kurz vor seinem 85. Geburtstag, starb Reiner Süß in einem Pflegeheim im mecklenburgischen Friedland.

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