Neugier sehr nah

Dietrich Wagner, Der Zugezogenenstammtisch

  • Henry-Martin Klemt
  • Lesedauer: 2 Min.

Schaut man sich nach dem Verbleib einstiger »junger Poeten« um, entdeckt man zuweilen literarische Spuren. Eine führt aus Eisenhüttenstadt in den Schwarzwald. Dort lebt Dietrich Wagner, Jahrgang 1967, als Psychologe und Autor. Nach einem Bändchen mit subtilen Regengedichten zeigt er sich nun als Erzähler von »Waldprosa«, wie er seine im Lothar Seidler Verlag veröffentlichten Geschichten nennt.

Im Editorial lobt Friedrich Schorlemmer die »sehr schöne, einfache, eindringliche und bildhafte Sprache« des Autors. Tatsächlich findet Wagner in seiner höchst lebendigen Zurückgezogenheit sich mit den eigenen Skurrilitäten recht gut aufgehoben unter den Skurrilitäten der anderen.

So, wenn er in der Titelgeschichte »Der Zugezogenenstammtisch« sich samt Frau und großer Zuversicht aufmacht, Gleichgesinnte zu treffen. Tatsächlich stößt er auf ein anderes Ehepaar in Gewöhnungsnöten, das, zwanzig Kilometer von der früheren Heimat entfernt, zusehen muss, wie es zurechtkommt in der großen weiten Welt …

Wagner formuliert gern in der ersten Person, und dieses Ich, wenn es den Alltag besichtigt, beäugt auch immer ein wenig sich selbst. Dass der Autor sich dabei jeder Wertung enthält, macht die Lektüre merkwürdig. Es ist ein leiser Freimut, der sich ausspricht über gemeinhin nicht so frei ausgesprochene Dinge. Wagner beschreibt Situationen, bevor das Gedächtnis sie verfremdet hat zu einer Anekdote, einem Bonmot, einer Pointe, die wir nicht selber sind. Er schreibt unterhalb der Distanz, die wir suchen, die uns beruhigt. Wo sie schwindet, nehmen die kleinen und großen Ängste zu, weiß der praktizierende Psychologe. Was uns peinlich ist, wo wir Kontrollverlust fürchten und wie manipulierbar wir gerade dann sind - das ist sein Sujet. Eifer liegt Wagner fern. Neugier hingegen sehr nah.

Dietrich Wagner: Der Zugezogenen-stammtisch - Waldprosa. Lothar Seidler Verlag. 103 S., br., 11,80 €.

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