Nur zwei Straßen führen nach Tuwa

Eine Reise über das Sajangebirge nach Kysyl zum Mittelpunkt Asiens in der Russischen Föderation

  • Alexandre Sladkevich, Tuwa
  • Lesedauer: 7 Min.
Das Mantra auf dem Berg, Schamanen und der Mittelpunkt Asiens - die Autonome Republik Tuwa bietet Reisenden manchen Reiz.

Die Route zum geografischen Mittelpunkt Asiens verläuft über das Sajangebirge, das mit seinen Schluchten und Pässen sehr abwechslungsreich ist. Mal steigt man zur Raucherpause nur leicht angezogen aus dem Auto aus und blinzelt in die Sonne. Später muss man sich dick anziehen, um sich mit hoch gestreckten Händen zu überzeugen, dass der Schnee am Fahrbahnrand viel höher ist als man selbst.

Dieser nicht unumstrittene Mittelpunkt Asiens liegt in Tuwa, einer Autonomen Republik in Russland, beziehungsweise Tywa in Sibirien. Die an die Mongolei grenzende Republik ist von zwei weiteren Bergketten von der Außenwelt abgeschnitten: dem Altai und dem Tannu-ola-Gebirge.

Nur über zwei Straßen gelangt man nach Tuwa. Seit 2007 spricht man vom Bau einer Eisenbahnstrecke. Ende 2011 hämmerte Russlands Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich einen symbolischen Hakennagel in eine Bahnschwelle. Doch bis heute wurde nicht viel gemacht. Weniger intensiv befördern Leichtflugzeuge die Menschen nur aus zwei sibirischen Städten dorthin, aber das ist kostspielig. Auf diese Weise ist die Republik ziemlich isoliert.

Der in Kysyl, der Hauptstadt der Republik, geborene 45-jährige Wladimir Melnikow bewältigt den Sajan mit seinem mit Baustoffen vollgeladenen Pritschenwagen mehrmals im Monat. Aber immer wieder ungern. »Die Pässe sind sehr gefährlich und man muss stets die Augen offenhalten. Außerdem fühle ich mich unwohl in der Republik«, erzählt er.

So wie die meisten Russen floh er in den 1990er Jahren, als eine Hetzjagd auf die russische Bevölkerung ausgebrochen war, und ließ sich im kleinen sibirischen Dorf Sineborsk nieder. »Obwohl ich mich mit den Tuwinern sehr gut auskenne und ein wenig ihre Sprache verstehe, weiß man bei ihnen nie«, klagt er.

Tuwa hat einen schlechten Ruf: arm, übermäßig kriminell, unterentwickelt. Sein schäbiger Isuzu passiert einen Stupa, einen mit bunten Gebetsfahnen und Tuchstreifen gezierten Baum, auch die Obos genannten rituellen Steinhaufen. Die vorletzte Pause legt Wladimir in Pij-Chemskij Koschuun (Rajon) vor einer Statue ein: Ein auf den Knien stehendes Kalb nuckelt an der Hirschkuh. »Das kleine Tuwa melkt das große Russland, heißt sie im Volksmund«, merkt er an.

Einen Russen in Kysyl zu sehen, gelingt tatsächlich nur selten. Gelegentlich begegnet man Menschen, die Russisch nur gebrochen sprechen. Manche Schilder und Namen sind auf Russisch und Tuwinisch geschrieben. Man trifft einige Betrunkene, aber sie scheinen nicht sehr gefährlich zu sein. Manche Jugendliche wirken unfreundlich und aggressiv. In einem Laden sitzen einige direkt auf der Theke, lassen die Beine baumeln und verdecken das Sortiment. Dem Wächter und den Verkäuferinnen ist das gleichgültig.

»Es ist überhaupt nicht gefährlich hier!«, berichtet mit gehobener Stimme Larissa Smaschnikowa. Sie gehört zu den wenigen Russen, die Tuwa treu geblieben sind. Sie arbeitet in einem Schönheitssalon. Etwa 54 Jahre alt, trägt sie viel Schminke, eine große Sonnenbrille, einen kurzen Rock und hohe Lederstiefel. »Nie habe ich ein schlechtes Wort von den Tuwinern gehört. Man muss sich einfach nicht abends auf der Straße aufhalten und Betrunkenen aus dem Weg gehen. Nach 19 Uhr und am Wochenende ist es verboten Alkohol zu verkaufen. Tja, man kauft ihn aber im Voraus. Es gibt auch viele, die Gras rauchen, weil es hier überall wächst.«

Ihre Arbeitskollegin Aja Kuular ist eine Tuwinin. So wie manche nicht auf dem Land geborene Einheimische beherrscht sie Tuwinisch nicht besonders gut. Sie sieht ein, dass die Republik sehr arm und Alkohol ein Problem ist. Es macht sie aber auch traurig, dass behauptet wird, die Tuwiner seien gefährlich. »Einmal wurde ich außerhalb der Republik gefragt, wo ich mein Messer am Körper verstecke«, erzählt sie immer noch bestürzt.

Sie bestätigt, dass nach 18 Uhr die Straßen wie leer gefegt seien, da bleibe man besser daheim. »Man hat hier keine Möglichkeiten zum Ausgehen, darum sitzen alle zu Hause.« So wie viele Tuwiner ist die 25-jährige Aja klein gewachsen. Sie hat lange dunkle Haare, ein rundes Gesicht mit den typischen Zügen der Turkvölker und ein charmantes Lächeln. Obwohl ihr Mann etwas eifersüchtig sein wird, nimmt sie sich einige Stunden von der Arbeit frei, um ihre Stadt zu zeigen.

Auf dem Hauptplatz befindet sich eine buddhistische Gebetsmühle, umgeben vom pompösen Theater und den Regierungs- und Parlamentsgebäuden. Die beiden letzteren sind mit dem tuwinischen Wappen verziert: Ein Pferd mit Reiter in nationaler Tracht strebt der Sonne entgegen. Darunter steht »TYWA« in kyrillischer Schrift. Die Tuwiner, Angehörige eines Turkvolkes, waren ursprünglich nomadische Viehzüchter. Bei ihnen setzte sich etwa im 17. Jahrhundert der Buddhismus als dominierender Glaube durch. Doch auch der Schamanismus konnte sich bis heute erhalten.

Neben der Gebetsmühle schmückt den Platz ein Brunnen mit stilisierten asiatischen Steintieren. Der russische Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin blickt auf ihn herab. Hinter ihm prunkt auf dem Dogeje-Berg ein Mantra auf Tibetisch. Das 120 Meter lange »Om mani padme hum« ist angeblich das größte weltweit. Man kann es ebenso wie viele grüne oder mit Schnee bedeckte Berge von vielen Plätzen der Stadt aus erblicken.

Hier trifft Aja zufällig ihren Vater bei dessen Spaziergang. Boris Bajyr-ool ist ein angesehener Mann. Als Architekt bestimmte er das heutige Aussehen der Stadt mit. Nun ist er ein Rentner, dessen Meinung geachtet wird. Boris verkündet: »All das schenke ich dir!« Er dreht sich halb um und deutet mit den Händen auf Kysyl. Er empfiehlt Mongusch Kenin-Lopsan zu besuchen und erlaubt Aja, sich auf ihn zu berufen. Mongusch ist der Hauptschamane der Republik und sehr beschäftigt. »Kenin-Lopsan sagt zu meinem Vater ›mein Architekt‹ und küsst sein Hand«, sagt Aja stolz. »Auch mein Großvater war sehr bekannt. Er gehörte zu den ersten Kommunisten, die Tuwa russifiziert haben.«

Zu den Sehenswürdigkeiten gehört auch das monumentale Nationalmuseum. Ihm zu Füßen steht eine Plastik: Ein Nomade mit Pfeil und Bogen, der auf dem Rücken eines Yaks steht. Auf den Bänken sitzen Rentner, Mütter mit ihren Kindern und Jugendliche. Noch ein Platz Kysyls ist belebt. Hier sind mit einem Kriegsdenkmal, einem Panzer, auf den die Kinder klettern, und Büsten die im Zweiten Weltkrieg Gefallenen verewigt.

Nur einen Katzensprung entfernt steht ein relativ kleiner Hureje »Zetscheling« - der buddhistische Haupttempel der Republik. Zetscheling heißt »Ort des grenzenlosen Mitgefühls«. Auf dem Gelände befinden sich die üblichen Stupas, buddhistische Bauten, die man hier als Suburgan bezeichnet, und Gebetsmühlen. Die Besucher umkreisen den Tempel gewöhnlich drei Mal.

In der Stadt finden sich an manchen Fassaden Mosaiken: ethnische und solche, die noch aus der Sowjetzeit stammen. Eine riesige Jurte erweist sich als Restaurant mit tuwinischer Küche. Darunter Tschoreme - ein Gericht aus dem Bauch- und dem Zwerchfell des Lammes. Dazu tuwinischen Tee, der mit Milch, Salz und Fett zubereitet wird.

Auf der Uferstraße unweit der Stelle, wo der Große Jenissei und der Kleine Jenissei zusammenfließen und somit der Jenissei seinen Ursprung nimmt, türmt sich ein Obelisk auf - Tuwas Stolz. Auf ihm ist auf Russisch, Tuwinisch und Englisch zu lesen: »Das Zentrum von Asien«. Doch sein Standort ist umstritten: China hat ebenfalls Anspruch auf einen Mittelpunkt des Kontinents. Unweit des Obelisken befinden sich neun speerartige Holzsäulen mit bunten Tuchstreifen: Wie die Schamanen sagen, binden dort die Geister ihre Pferde an.

Auf dem Weg zu Mongusch Kenin-Lopsan, dem Präsidenten der tuwinischen Schamanen, zeigt Aja auf ein Gebäude, wo die weltbekannte Musikgruppe »Huun-Huur-Tu« probte. Sie gehört zu den Boten des besonderen Markenzeichens der tuwinischen Kultur: Khöömei - Kehlgesang.

Wie erwartet hat Kenin-Lopsan viele Besucher, aber die Tochter von Boris Bajyr-ool hat Vorrang. Der 89-jährige Mongusch hat schneeweiße Haare und durchdringende Augen. Er bevorzugt Tuwinisch, wirkt sehr stolz und scheint ärgerlich zu sein. Doch Aja lächelt: »Er macht Scherze, er ist gar nicht böse!«

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