Die drei Affen

Stephan Hebel diagnostiziert Deutschland

  • André Brie
  • Lesedauer: 3 Min.

Stephan Hebel ist ein prominenter Journalist. Dass er zuhören, sehen und sprechen kann, hat er nicht zuletzt als Mitglied jener Jury längst bewiesen, die das »Unwort des Jahres« verkündet.


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* Stephan Hebel: Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen.
Westend. 240 S., br., 16,99 €.


Sein Buch »Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen« handelt nicht zuletzt davon, dass die berühmten drei siamesischen Affen, die nichts hören, nichts sehen, nichts sagen, in Deutschland ungeheuer starken Nachwuchs in der Politik und den Medien gezeugt haben. Was nicht bedeutet, dass nicht am laufenden Band geplappert wird. Am meisten reden jene, die am wenigsten zu sagen haben, die nicht hören und sehen, was ihnen nicht passt. Hebel weist überzeugend und anhand zahlreicher Quellen nach, dass dadurch in der Bundesrepublik längst erforderliche und mögliche Veränderungen, echte Reformen und Alternativen verschlafen werden. Jenen, die gerade deswegen hellwach und unruhig sind, sei dieses Buch dringend empfohlen.

Hebel analysiert, begründet und belegt mit Fakten, Zahlen und Zitaten, wie erstens die herrschende Politik und die Medien »uns in den Schlaf wiegen«; zweitens die große Koalition »gemeinsam den Weg der Reformverweigerung« geht, die SPD den Anspruch ihres eigenen »Regierungsprogramms« aufgab, wichtige Teile der Grünen mit Schwarz-Grün liebäugeln und DIE LINKE sich als »Opposition allein zu Haus« gefällt; drittens in der Gesellschaft ebenso wie in Europa eine gefährliche »Politik des Stillstands« durchgesetzt wird; viertens es »Zeit für die nächste Wende«, für »Protest und Widerstand« ist.

Was der Autor für die sozialdemokratischen Wahlaussagen überzeugend feststellt, ist ebenso für eine wirkliche politische, sozial-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternative sowie deren kulturelle, bildungs- und medienpolitische Voraussetzungen gültig: »Zu Ende gedacht wäre das nämlich nur mit einer Überwindung des kapitalistischen System in seiner heutigen Form zu überwinden.« Ebenso hat er meiner Meinung nach recht, wenn er fordert, »dass es der Linkspartei gelingt, glaubwürdige Alternativen zur Stillstandspolitik der großen Koalition zu entwerfen und damit möglichst mehr Menschen zu überzeugen als die bereits Überzeugten«.

Das größte und schwierigste Problem für DIE LINKE, für gesellschaftlichen Widerstand und die »Wiedergewinnung des Politischen« überhaupt, scheint mir aber auf einem Feld zu liegen, dem sich auch Hebel praktisch nicht zuwendet. Er greift scharf und klug-argumentativ ein Wirtschaftssystem an, »das dazu neigt, aus Bürgern Konsumenten und aus sozialen Wesen Einzelkämpfer zu machen«, sowie eine Politik, »die sich diesem System weitgehend anpasst und den notwendigen Umbau verweigert«.

Wenn er an anderer Stelle aber zu Recht darauf verweist, dass Deutschland »auf dem Weg in eine sozial gespaltene Demokratie« ist, wäre es auch erforderlich, sich damit zu befassen, dass immer mehr »Einzelkämpfer« längst nicht mehr kämpfen, nicht wählen und nur sehr eingeschränkt kommunizieren.

Die Demokratie ist nicht nur gespalten, sie hat Millionen ausgeschlossen. Und die Zahl der Ausgegrenzten wächst stetig. Wobei diese sich durch Nichtbeteiligung an Wahlen, ob aus Mutlosigkeit oder Gleichgültigkeit, selbst ausschließen. Viele von ihnen sind am stärksten von der Aufgabe sozialstaatlicher Politik betroffen. Wenn es sozialkritischen Parteien und Protestbewegungen nicht gelingt, sie zu erreichen, ihnen Zuversicht zu vermitteln und sie zu eigner Aktivität zu ermuntern, bleibt jede Alternative auf Sand gebaut.

Ich würde mich freuen, wenn ein so kompetenter Autor wie Stephan Hebel sich im nächsten Buch dieser Frage stellt. Sie gehört ohnehin endlich in das Zentrum praktischer Überlegungen und konkreten Handelns aller politisch Agierenden, jenseits von Wahlprogrammen, Parlamentsinitiativen und Medienarbeit. Sonst ist die Demokratie verloren.

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