Potsdam greift wieder an

Folge 59 der nd-Serie »Ostkurve«: Turbine mit altem System, neuem Personal und dem ewigen Prinzip Schröder

Eigentlich lässt sich ganz vortrefflich mit Bernd Schröder über Fußball reden. Aber man muss erst mal dazu kommen. »Bewegt euch«, treibt Turbine Potsdams Trainer seine Fußballerinnen während der letzten Übungseinheit vor der Reise nach München zum Bundesligaspiel an diesem Freitag gegen den FC Bayern an. Die kurzen, lauten Anweisungen lenken nicht vom Gespräch über Spielerinnen, Spielsysteme oder Gegner ab. Es ist Bernd Schröder selbst. In der Abendsonne im Stadion am Luftschiffhafen spricht er über Friedrich Schillers »Die Bürgschaft«, über Vorbilder, Verantwortung, Vertrauen - die Gesellschaft eben, heute und in vergangenen Zeiten. Wenn der 72-Jährige über Fußball nachdenkt, dann auch immer über das Große und Ganze.

23 Spielerinnen trainieren gerade, vier fehlen verletzt. »Wir müssen ausmisten«, zeigt Schröder auf den Platz. Er ist unzufrieden. Den letzten Titel gewann Turbine 2012 mit der Deutschen Meisterschaft. Den DFB-Pokal brachte der Klub letztmals 2006 nach Potsdam. »Uns fehlen die Talente«, nennt der Trainer sein größtes Problem. Die Liste der Stammspielerinnen, die Turbine wegen besserer Verdienstmöglichkeiten anderswo Jahr für Jahr verlassen, ist lang: Über ein Dutzend allein in den vergangenen drei Jahren. Zuletzt ging Julia Simic im Winter nach Wolfsburg, im Sommer wechselt Genoveva Añonma nach Portland in die USA. Den hohen Qualitätsverlust versucht Turbine durch eine sehr aufwendige Nachwuchsarbeit auszugleichen.

Auf dem Rasen üben die Fußballerinnen unter Leitung der beiden Co-Trainer Achim Feifel und Dirk Heinrichs gerade einen Spielzug: Aufbauspiel aus der Abwehr, Seitenwechsel mit einem langen Ball ins Mittelfeld, zwei kurze Pässe, erneuter Seitenwechsel, Flanke, Torabschluss. Bernd Schröder wendet sich vom Spielfeld ab und deutet Richtung Norden. In Blickweite vom Stadion am Luftschiffhafen liegt die Friedrich-Ludwig-Jahn-Schule, eine Eliteschule des Sports. 60 Mädchen hat Turbine derzeit dort, bundesweit mit Abstand die meisten. »Die trainieren achtmal in der Woche, da muss einfach mehr bei rauskommen«, fordert Schröder. Er beklagt, dass die Nachwuchsspielerinnen, nicht an ihre Leistungsgrenzen herangeführt würden.

»Wenn man nicht an seine Grenzen geht, kann man nicht die nächste Stufe erreichen«, erzählt er und ist somit schon wieder beim Großen und Ganzen. Er vermisse die Verantwortung gegenüber dem Verein. An der Eliteschule werde nicht so gearbeitet, wie Turbine sich das vorstelle. »Wenn die jungen Spielerinnen dann zu uns kommen, halten sie der Belastung und den Anforderungen nicht stand«, sagt Schröder. Ihm fehlt der kollektive Gedanke, er sieht keine Vorbilder für die Jugend, bemängelt Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit.

Pauline Bremer nimmt den Ball perfekt an, auch der Pass kommt genau. Eine Aufforderung von Schröder braucht sie nicht, sie bewegt sich auch im Training gut. Die 18-Jährige ist die bislang Letzte, die den Sprung aus der Jugend zur Stammspielerin geschafft hat. Ihr großes Talent verhalf ihr allerdings schon mit 16 Jahren zum Bundesligadebüt im Turbine-Trikot. Mittlerweile ist sie Nationalspielerin. Auch die 22-jährige Jennifer Cramer und die ein Jahr ältere Tabea Kemme sind aus der Potsdamer Mannschaft nicht mehr wegzudenken. Felicitas Rauch (19) ist zumindest auf einem guten Weg. Diese vier sind gute Beispiele für erfolgreiche Nachwuchsarbeit. Aber es sind eben nur vier, die es in den letzten sechs, sieben Jahren geschafft haben. »Eigentlich müssten wir jedes Jahr eine oder zwei Spielerinnen nach oben bringen«, sagt Schröder.

Auch wenn seine Ideen an der Eliteschule nicht unbedingt mitgelebt werden, stellt er klar, dass die Voraussetzungen in Potsdam ideal seien. Denn das duale System mit dem Sport auf der einen Seite und Schule, Ausbildung oder Universität auf der anderen, ist ihm aus zwei Gründen wichtig. Es ist erstens ein klarer Standortvorteil gegenüber den meisten Konkurrenten, der manch einen Nachteil im Kampf um Spielerinnen wettmachen kann. Und zweitens sieht Schröder es als seine Verantwortung, für die Bildung von Geist und Körper zu sorgen und somit eine Perspektive für die Lebensplanung zu schaffen.

Das Wort »Verantwortung« fällt oft. es ist auch seine Antwort auf die Frage, warum er das nach 44 Jahren hier immer noch mache. »Ich habe die Verantwortung für einen Verein, für eine ganze Sportart übernommen. Da kann ich nicht einfach aufhören und alles liegenlassen.« Nicht ganz uneitel, aber auch zurecht, erzählt Schröder, dass er alles aufgebaut hat, was Turbine Potsdam heute ist: Sechs Meistertitel in der DDR, sechs Meistertitel nach der Wende, drei Siege im DFB-Pokal und zwei Titel in der Champions League. »Wir waren immer erfolgreich«, sagt Schröder. Und deshalb könne man hier immer mal Kleinigkeiten verändern. Aber: »Das Prinzip muss immer das gleiche bleiben.« Es ist das Prinzip Schröder: eine starke Gemeinschaft durch gegenseitiges Vertrauen, Verantwortung füreinander, Offenheit miteinander und Leidenschaft für die gemeinsame Sache. »Ohne diese Philosophie wären wir nicht überlebensfähig«, glaubt Bernd Schröder.

Manchmal kann er aber auch überraschen. So wie am vergangenen Wochenende den VfL Wolfsburg. Da ließ er seine Spielerinnen im alten 3-4-3-System auflaufen und den Gegner von Beginn an attackieren. Das Ergebnis des stürmischen Auftritts: Turbine gewann 2:0 und Wolfsburg verlor nach mehr als einem Jahr wieder ein Bundesligaspiel. Die Erkenntnis: »Es war sehr wichtig für uns zu sehen, dass wir es noch können«, sagt Schröder. Auch er ist im Laufe der Saison ins Zweifeln geraten. Doch nun haben die Potsdamerinnen am Freitagabend die unverhoffte Möglichkeit, doch wieder ins Titelrennen einzusteigen. Mit einem Sieg würde Turbine den FC Bayern überholen und wäre punktgleich mit dem Zweiten 1. FFC Frankfurt.

Auch in München lautet die Devise Angriff, wieder im offensiven 3-4-3 mit drei Stürmerinnen. Dieses alte Potsdamer System will Schröder neu beleben, auch in der kommenden Saison: »Darauf sind unsere Transfers ausgerichtet.« Noch mindestens eine Stürmerin soll kommen, aber auch alle anderen Mannschaftsteile sollen verstärkt werden. Eben auch, weil der eigene Nachwuchs nicht genug zu bieten hat. Bislang stehen vier Neuverpflichtungen fest. Neben Allison Scurich die neu vom SC Sand kommt, kehren mit Patricia Hanebeck (Sand) und Bianca Schmidt (Frankfurt) zwei Spielerinnen zurück. »So schlimm kann es bei uns also nicht sein.« Schröder schmunzelt. Er zielt auf Vorwürfe ab, die er hin und wieder hört - von Kritikern und Gegnern, aber auch aus der Potsdamer Eliteschule des Sports. Das Training sei zu hart, der Umgangston zu schroff. »Die Sprache des Erfolgs ist rau«, sagt er und betont: »Wir machen Spitzensport.«

Svenja Huth ist die vierte, die im Sommer nach Potsdam kommt. Die 24-jährige Nationalspielerin ist die jedoch erste, die den umgekehrten Weg nimmt: von Frankfurt nach Potsdam. Auch dass nach etlichen Abgängen zum 1. FFC nun Verstärkung aus Hessen kommt, ordnet Schröder ins Große und Ganze ein. Was das bedeute? »Dass die Wiedervereinigung jetzt auch bei uns angekommen ist«, sagt Schröder und lacht. Die Sonne ist längst untergegangen. Es ist kühl im Stadion am Luftschiffhafen. Bernd Schröder friert nicht, er hat sich gerade erst so richtig heiß geredet.

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