Lichtblicke beim ersten Zeitfahren der Tour

Remco Evenepoel sorgt für Spannung bei der Frankreich-Rundfahrt, obwohl Tadej Pogačar schon wieder in Gelb fährt

  • Tom Mustroph, Caen
  • Lesedauer: 5 Min.
Remco Evenepoel nahm Tadej Pogačar auf der 5. Etappe 16 Sekunden ab.
Remco Evenepoel nahm Tadej Pogačar auf der 5. Etappe 16 Sekunden ab.

Drei strahlende Gesichter gab es beim Zeitfahren in Caen: Remco Evenepoel, der seinem Goldhelm als Doppelolympiasieger im Zeitfahren und Straßenrennen vollends gerecht wurde und auch in Nordfrankreich gewann. Tadej Pogačar, der als Tageszweiter seine Trikotkollektion erneut erweiterte. Der Slowene hatte sein maßgeschneidertes und aerodynamisch optimiertes Weltmeistertrikot vor der fünften Etappe gegen das Bergtrikot der Tour austauschen müssen. Das war zwar kein Flatterhemd aus den 80er Jahren, aber einen kleinen Nachteil in Sachen Luftwiderstand sah Pogačars Team schon darin. Nichtsdestotrotz fuhr der Slowene ein starkes Rennen gegen die Uhr und durfte sich am Ende über sein 41. gelbes Textil freuen. In dieser Rangliste stehen nur noch der vierfache Toursieger Chris Froome (58 gelbe Trikots) und vier fünffache Gesamtsieger vor ihm. Spitzenreiter ist – natürlich – die belgische Radsportlegende Eddy Merckx mit 96 Ausgaben.

Am Mittwoch durfte sich aber auch jemand freuen, der bisher noch ganz ohne Wertungstrikot bei der Tour ist: Florian Lipowitz. Der Schwabe legte als Sechster ein prächtiges Zeitfahren hin. Die mühsamen Stunden im Windkanal, um die optimale Position auf dem Rad zu finden, hatten sich also gelohnt. Lipowitz war sogar ein bisschen verblüfft über seine Leistung. »Von den Werten her war das nichts Besonderes, aber anscheinend hat es ja gereicht für relativ weit vorn«, meinte der 24-Jährige im Ziel. Diese Munterkeit selbst nach maximaler Anstrengung ist schön, zumal Lipowitz auch keinen Hehl aus den Rückschlägen der vergangenen Tage machte: »Ich bin nicht so stark in die Tour gestartet und habe deswegen auch ein bisschen an mir gezweifelt.« Das Zeitfahren in Caen bezeichnete er daher als »Lichtblick auch für die kommenden Tage«.

Ein Belgier nimmt sogar Pogačar Zeit ab

Ein echter Hoffnungsschimmer war ebenfalls die Leistung von Remco Evenepoel. Sein Vorsprung auf Pogačar war zwar nicht so groß wie beim Zeitfahren bei der Dauphiné-Rundfahrt. Im Juni hatte Evenepoel dem Topfavoriten der Tour auf einem ähnlich flachen Parcours fast drei Sekunden pro Kilometer abgenommen. »Jetzt war es nur eine halbe Sekunde pro Kilometer«, bilanzierte der Belgier und attestierte seinem Rivalen: »Er hat sich seitdem stark verbessert.«

Den Sieg im Zeitfahren hatte der Kapitän des Teams Soudal Quick Step fest eingeplant. Mit einer ähnlich überragenden Leistung wie bei der Dauphiné wäre es für Evenepoel sogar möglich gewesen, selbst ins gelbe Trikot zu schlüpfen. Aber die 39 Sekunden Rückstand, die er sich bei der Teilung des Pelotons auf der ersten Etappe eingefangen hatte, erwiesen sich als zu große Hypothek. Hinzu kam noch die Zeitgutschrift bei Pogačars Etappensieg auf dem Stadthügel in Rouen.

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Evenepoels Leistung zeigte aber: Es gibt noch Fahrer, die nicht automatisch um Platz zwei fahren, wenn sich Pogačar eine Startnummer anheftet. Ein anderer Fahrer von diesem Format ist eigentlich auch Jonas Vingegaard. Der Däne verlor in Caen zwar überraschend viel Zeit – mehr als eine Minute auf Pogačar –, aber zur sachlichen Einordnung sprang ihm sogar sein Konkurrent zur Seite. »Jonas ist der leichteste von uns dreien«, bezog sich Pogačar auf Vingegaard, Evenepoel und sich selbst. »Er hat daher auch eine geringere Maximalkraft als wir anderen und bei solch einem flachen Parcours spielt das eine wichtige Rolle.«

Der zweite Tour-Favorit strauchelt

Vingegaard kann sich zumindest darüber freuen, dass sein Trainingsfokus für mehr Explosivität bei dieser Tour angeschlagen hat. Auf den steilen Rampen der vierten Etappe am Dienstag blieb er nicht nur an Pogačar dran. Er sah auch, wie dieser kurz schwächelte und Tempo herausnehmen musste. Das merkte der Däne, weil er so nah dran war. »Es war meine beste einmütige Belastung aller Zeiten«, schätzte er danach sichtlich stolz ein.

Darauf lässt sich aufbauen bei dieser Tour de France. Vingegaard hat sich in einem entscheidenden Aspekt verbessert. Ein Rückstand im flachen Zeitfahren war realistisch, selbst wenn zwei Sekunden pro Kilometer sicher mehr sind als erhofft. Aber der Däne ist da. Pogačar erwartet sogar schon auf den nächsten Etappen vor dem ersten Ruhetag am kommenden Dienstag Attacken von Vingegaards Team Visma – Lease a Bike, um vor den Pyrenäen Zeit gutzumachen. Die Stärke dafür hat der niederländische Rennstall.

Evenepoel als lachender Dritter?

Auch Evenepoel hat sich in eine formidable Lauerstellung gebracht. Er kann auf eine Ermüdungsschlacht der beiden besten Rundfahrer hoffen. Offiziell gibt er als Ziel einen Platz auf dem Podium an. »Platz drei und ein Etappensieg sind die Planziele. Eines haben wir bereits abgehakt«, meinte der 25-Jährige und ergänzte: »Eines Tages möchte ich auch die Tour gewinnen. Dieses Jahr ist es noch zu früh.« Das Schmunzeln bei dem »zu früh« verriet aber, dass er bereit ist, jede Schwäche von Pogačar und Vingegaard auszunutzen, sich aber auch nicht zu sehr unter Druck setzen will. Denn gerade die Presse in Evenepoels Heimat ist immer auf der Suche nach der nächsten belgischen Radsportikone, weswegen der Abstand zwischen Vergötterung und Verdammung nur minimal ist.

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